Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens
Der Apokalypse-Spezialist, der Probeläufer für Luxusschuhe, der Ekelreferent, der Panikberater und nun der Überwinder – sie alle stammen aus der Feder des preisgekrönten Frankfurter Autors Wilhelm Genazino.
Zögerliche Helden sind sie, versonnene Einzelgänger, zumeist irritiert über den Verlauf ihres mittelmäßigen Lebens, immer verstrickt in eine mittelmäßige Beziehung: die Figuren aus den Romanen von Wilhelm Genazino, einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Deutschlands, ausgezeichnet mit dem Georg-Büchner-Preis und jüngst mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt geehrt.
In Mannheim geboren, verschlug es den Schriftsteller früh zum Studium (Philosophie, Germanistik und Soziologie) und als Redakteur des Satiremagazins „Pardon“ nach Frankfurt. Und dort ist er, mit einem kurzen Gastspiel in Heidelberg, bis heute geblieben. Er mag die Stadt, sie fasziniert ihn städtebaulich durch ihr Mittelmaß: Eine „Halbgroßstadt mit steckengebliebener Kleinstadt“ nennt er Frankfurt.
Wir treffen uns im Westend, wo Wilhelm Genazino nach Stationen in Sachsenhausen und dem Nordend mittlerweile wohnt, im Café Siesmeyer, nahe dem Grüneburgpark. Dort verbringt er spazierend so manche seiner Mittagspausen, denn da passiert viel, da gibt es viel zu entdecken und gleich wieder etwas zu schreiben. Wie auf dem Flohmarkt in Sachsenhausen, in der Kleinmarkthalle oder einem Knopfgeschäft in der Töngesgasse. Es sind die kleinen Dinge und die alltäglichen Begebenheiten, die Genazino beobachtet und uns in seinen Büchern mitentdecken lässt. Das Individuum im Spätkapitalismus ist sein Thema, und so fährt er beispielweise auch gern nach Eschborn und beobachtet die Menschen in ihren Büros.
Das durch die Stadt Spazieren und dabei etwas entdecken und darüber schreiben ist zu seinem Markenzeichen geworden und hat ihm das Etikett des Frankfurter Flaneurs verpasst. Eine Zuschreibung, die ihm nicht gefällt: „Werde ich das denn nie wieder los?“, fragt er und stellt fest: „Den Flaneur gibt es nicht mehr.“ Der Flaneur als ein sich Gedanken machender Spaziergänger – literarisch ersonnen und erschrieben von Charles Baudelaire und Walter Benjamin – ist eine überkommene Figur, denn, so Genazino: „Der Flaneur braucht leeren Raum, in unseren heutigen Gegenden herrscht zu viel Betrieb, zu viel Warenaufkommen.“
Überhaupt: Das Getümmel und die Dichte der Dingwelt sind Genazinos Sache nicht. Wenn er am Main spaziert, geht er oben unter den Platanen, wo es schön ruhig und leer ist, und nicht unten am Ufer wie alle anderen: „Menschen wollen Teil des allgemeinen Getümmels sein.“ Manchmal begegnet er Nordic Walkern, er nennt sie „Freizeitsoldaten“: Menschen, die mit Stöcken gegen die Einrostung marschieren. Und er konstatiert: „Das Gerätewesen nimmt überhand.“
Deswegen hat er auch keinen Computer, er möchte nicht an ein Gerät angeschlossen sein – das analoge Leben und Arbeiten, „entschleunigt durch die natürliche Langsamkeit“, geht so seinen ruhigen Gang. Kleine Zettel sind die Bausteine für Wilhelm Genazinos Romane – auf ihnen hält er alles fest, was er beobachtet, was er liest oder was ins Buch soll. Die Notizen auf den Zetteln überträgt er dann mit einer mechanischen Schreibmaschine in sein Manuskript. Wenn die Tasten klappern, fühlt er sich wie ein Specht, der etwas zu hacken hat. Die Zettel wandern anschließend in große Leitz-Ordner – jüngst hat das Literaturarchiv Marbach 30 davon als Vorlass abgeholt.
In Wilhelm Genazinos Wohnung stehen drei Schreibtische: der erste für das im Werk befindliche Buch, der zweite für Essays und andere Arbeiten und der dritte als Experimentalschreibtisch, den er „Luftschloss“ nennt: Hier liegen Notizen, Mappen und Zettel, aus denen vielleicht etwas wird oder eben auch nicht, oder später einmal. Er schreibt jeden Tag, auch am Sonntag – da besonders gern -, „wenn die restliche Welt schweigt“.
Wenn er etwas nachschlagen muss, tut er dies in einem seiner zahlreichen Lexika, denn „was ich dort nicht finde, kann ich auch dem Leser nicht zumuten“. Neben den Lexika hat er unzählige Bücher, wirr sortiert, die Lieblingsautoren in Komplexen zusammengestellt: Virginia Woolf, Joseph Conrad, Harold Pinter, Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow, Adalbert Stifter, Katherine Mansfield, Wolfgang Hildesheimer, Heinrich Böll. Früher hat er sich Monat für Monat über sämtliche Neuerscheinungen informiert, aber das ist heute aufgrund der Flut an neuen Büchern gar nicht mehr möglich. In Buchhandlungen und Antiquariaten, vor allem aber in Zeitungsrezensionen findet Wilhelm Genazino die Bücher, die ihn interessieren. Jüngst hat er die frisch erschienenen literarischen Skizzen von Felix Hartlaub „Aus Hitlers Berlin – 1934 bis 1938“ für sich entdeckt.
Und was hat es nun mit der „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ auf sich? Das ist einer der so wunderbar von Wilhelm Genazino ersonnenen Begriffe, wie die allgemeine Lebensersparnis, die Hyperwirklichkeit, Gedächtniskunst, Verflusung, die öffentliche Belanglosigkeit, eine Weltvertrauensstelle oder die Liebesverblödung. Die „Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ ist vielleicht sogar der Schlüsselbegriff zum Kosmos seiner Romanhelden, denn „unter ihr kann man alles subsumieren und man hört auf, sich zu wundern – es ist tolerabel“. Claus-Ulrich Bielefeld nannte ihn jüngst in der Welt den hessischen Woody Allen, weil man die Bücher von Wilhelm Genazino ebenso lese, wie man die Filme des New Yorker Regisseurs anschaue: „Man hofft nicht auf die große epische Schilderung, sondern wartet auf die kurzen Momente, da die alltäglichen Dinge zu schillern beginnen.“ Und das tun sie bei Wilhelm Genazino.
von Silke Hartmann (14.10.2014)