Mit präliterarischem Blick auf die Welt
Die Journalistin Verena Lueken hat nach zwei Jahrzehnten essayistischen Schreibens den Sprung ins Literarische gewagt und gerade ihren ersten Roman veröffentlicht.
Als Filmredakteurin und Kulturkorrespondentin der F.A.Z. hat Verena Lueken unzählige Artikel und Essays verfasst. Nun liegt ihr erster Roman vor. „Alles zählt“ ist das Buch einer Literatur- und Filmbegeisterten, gespickt mit Zitaten und Querverweisen auf Gelesenes und Gesehenes. Für Verena Lueken steht das Erlebnis, das sich beim Lesen eines Buches oder dem Betrachten eines Films einstellt, gleichberechtigt neben dem real Erlebten: „Literatur und Film sind Teil des Erfahrungsschatzes, der sich im Laufe eines Lebens anhäuft.“ Das Schreiben des Romans hat sie konfrontiert „mit der Person, die man geworden ist durch das Lesen all der Bücher“.
Doch wer ist diese Person? In Frankfurt geboren und aufgewachsen, zieht Verena Lueken bereits als 16-Jährige von zu Hause aus und in ein Zimmer im Westend, in der Liebigstraße. Sie macht ihr Abitur, studiert Tanz, Soziologie, Germanistik und Filmwissenschaft und schreibt ihre Diplomarbeit zum Thema „Narrative Strukturen im nationalsozialistischen Film“ – ein bis dato völlig unbearbeitetes Feld.
1981 geht sie zum ersten Mal in die USA, nach Philadelphia. Aus Liebe zu einem Mann. Die Liebe zu ihm zerbricht, die Liebe zum Land hält bis heute. Englisch lernt sie vor Ort, in ihrer humanistischen Schule gab es nur Latein, Griechisch und Französisch, in Philadelphia und New York besucht sie Tanz- und Filmkurse. 1984 kehrt sie nach Frankfurt zurück und arbeitet zunächst im Management einer Werbeagentur. Sie erledigt ihren Job erfolgreich, aber mit einer großen Portion ironischer Distanz. „Was für eine Weile gut geht,“ erklärt sie, „aber bevor die Ironie in Zynismus kippt, wollte ich etwas anderes machen.“ Den endgültigen Anstoß gibt ihr ein Freund, der eines Abends ihre Diplomarbeit liest und sagt: „Du solltest deinen Job an den Nagel hängen!“ So beginnt sie unter anderem für den Pflasterstrand als freie Journalistin zu arbeiten. Sie gibt sich ein Jahr: „Wenn ich es bis dahin nicht ins Feuilleton der F.A.Z. geschafft habe, gebe ich den Journalismus wieder auf.“ – „Ein bisschen größenwahnsinnig“, sagt sie heute. Aber es hat funktioniert.
Ein eingereichter Artikel weckt das Interesse bei der F.A.Z., Arbeitsproben werden angefordert. Ein paar wenige Artikel sind bis dahin von ihr im Pflasterstrand oder der taz erschienen. Und so reicht Verena Lueken quasi ihr Gesamtwerk bei der F.A.Z. ein. Und hat Erfolg. Zunächst ist sie für die Fernsehseite verantwortlich und darf Kinofilme besprechen. „Die Schwierigen“, wie sie sagt, „von David Lynch oder Quentin Tarantino“. Nach einem Dreivierteljahr als freie Journalistin fährt sie zur Berlinale, im Mai zu den Filmfestspielen in Cannes. Im November bekommt sie dann den Redaktionsvertrag bei der F.A.Z.
Neben der Literatur ist auch das Kino seit jeher eine große Leidenschaft von Verena Lueken. Als junges Mädchen gibt es ein samstägliches Ritual mit einer Freundin. Deren Oma lädt die Mädchen ins Café Kranzler an der Hauptwache ein und nach dem obligatorischen Baumkuchen gehen die beiden ins Kino. Heute vermisst sie die Frankfurter Filmpaläste, die dem großen Kinosterben, das in den 60ern begann, zum Opfer fielen.
1995 geht Verena Lueken erneut in die USA, diesmal als Kulturkorrespondentin für die F.A.Z. nach New York. Und bleibt sieben Jahre. Noch heute besucht sie die Stadt drei bis vier Mal im Jahr, bis 2005 hat sie dort eine eigene Wohnung. Heute wohnt sie bei Freunden: „Wenn diese New Yorker Freunde einmal nicht mehr da sein sollten, wird sich mein Verhältnis zur Stadt weiter verändern.“ Sie hat kein mystifiziertes Verhältnis zu New York. „Die Stadt liegt mir einfach, es gibt so viele unterschiedliche Menschen dort, die mit ihren jeweiligen Lebensumständen zurechtkommen müssen.“ Verena Lueken liebt es, sich in New York zu bewegen, als Einzelperson Teil eines urbanen Organismus zu sein. „Wenn man gelernt hat, seine Wege zu navigieren, dann fühlt man sich zu Hause“. Aber „Manhattan hat sich sehr verändert“, sagt sie. „Allein die Handy- und Selfie-Kultur hat die Schnelligkeit aus der Stadt genommen. Musste man sich früher in den schnellen Rhythmus der Straße einfügen, wird dieser Rhythmus heute ständig unterbrochen von Menschen, die stehen bleiben oder langsam gehen, weil sie auf ihr Handy starren oder sich selbst fotografieren.“ In Frankfurt empfindet sie die Straßenöffentlichkeit ganz anders: „leer und still“. Das erzeugt bei ihr aber kein Gefühl von Heimeligkeit, sondern eher von Verlorenheit.
Zwei Jahrzehnte schreibt Verena Lueken Artikel und Essays für die F.A.Z. sowie drei Sachbücher. Dann versucht sie sich an einem Roman. Sie erklärt den Sprung vom journalistischen zum literarischen Schreiben: „Ich musste etwas anderes schreiben, sonst hätte ich etwas anderes machen müssen.“ Und sie will wissen, was sie mit den Sätzen anderer machen kann. Sie nennt es den „präliterarischen Blick“, mit dem sie die Welt betrachtet.
Und so beginnt ihr Roman mit einem Zitat von James Salter: „New York im Sommer. Beißendes Licht, brüllende Hitze, eine erbärmliche Zeit, um zu sterben.“ Verena Lueken erzählt die Geschichte einer Frau, die sich in ihrer Wahlheimat New York eine Auszeit nehmen möchte und dort erfährt, dass sie an Krebs erkrankt ist, zum wiederholten Mal. Dies nimmt sie zum Anlass, die Dinge ihres Lebens – alles, was zählt – noch einmal in den Blick zu nehmen. In ihrem Roman verbindet Verena Lueken all jenes, was ihr am Herzen liegt: die Literatur, der Film – und New York. Da liegt es nah, was sie sich für die Zukunft wünscht: „Es wäre natürlich großartig, wenn das Buch auch in Amerika erscheinen würde.“
von Silke Hartmann (27.10.2015)