Wie leitet man ein Gedächtnis?
Die Deutsche Nationalbibliothek soll das kulturelle Erbe des Landes sichern und bewahren. Zu diesem gehören alle Publikationen seit 1913 und nun auch noch digitale Publikationen. Geht gar nicht. Oder doch? Fragen an die Frankfurter Direktorin Ute Schwens.
Die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) soll so etwas wie das Gedächtnis der Nation sein. Bereitet es Ihnen nicht schlaflose Nächte, dass Sie an dieser Aufgabe nur scheitern können?
Nein, ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass man den Anspruch an Vollständigkeit nicht vollkommen erfüllen kann. Wir haben unsere Aufgaben aber gut im Griff. In gewisser Weise sind wir auch so etwas wie ein riesengroßes Logistikunternehmen, das große Mengen aufnimmt, ordnet, verwaltet und bereitstellt.
Unter den gesetzlichen Sammelauftrag fällt letztlich jede Publikation ab 1913, die einen Bezug zu Deutschland hat. Das reicht vom deutschen literarischen Bestseller und dessen Übersetzung ins Japanische über die 18. Auflage eines Reiseführers, in Deutschland erscheinende Musikpublikationen, die Tageszeitung aus Wuppertal oder ein Punk-Fanzine bis hin zu einem brasilianischen Buch über deutsche Bierkultur. Wie macht man das?
Die Masse kommt über die Pflichtabgabe, das heißt, alle Verlage oder sonstigen Produzenten müssen uns zwei Exemplare ihrer Veröffentlichungen abliefern. Alles andere fordern wir an. Die Informationen über Veröffentlichungen im Ausland bekommen wir zum Beispiel über die Abgleiche mit anderen Nationalbibliografien. Mitunter arbeiten unsere Mitarbeiterinnen aus dem Bereich Erwerbung fast ein bisschen wie Detektive.
Das Besondere an der DNB ist ja, dass sie nicht inhaltlich gewichten darf. Nichts ist zu abseitig, als dass es nicht in Ihren Bestand gehört. Wünschen Sie sich manchmal eine inhaltliche Präzisierung?
Nein. Das würde uns die Arbeit zwar vereinfachen, aber wer will entscheiden, was relevant ist oder einmal sein wird? Es gab Zeiten, in denen wir für verrückt erklärt wurden, weil wir Comics sammeln. Aus heutiger Sicht wäre es fatal gewesen, hätten wir das nicht getan. Oder nehmen Sie die Regenbogenpresse: Heute kommen Grafiker, Designer oder Werbefachleute, um sich die Stile von früher anzuschauen. Es ist nun einmal nicht alles schwarz oder weiß. Das Leben besteht aus Farbtönen zwischen diesen beiden Polen. Neben dem Sammeln und Archivieren besteht unser Auftrag übrigens auch darin, unseren Bestand bibliografisch zu verzeichnen und zugänglich zu machen, das heißt, dass wir jede Medieneinheit, sei es ein Buch oder eine CD, formal und inhaltlich erschließen, sodass Nutzer in unseren Katalogen recherchieren und die Medien auch ausleihen können.
Sie haben 1980 in der damaligen Deutschen Bibliothek an der Bockenheimer Warte angefangen, die als westdeutsches Pendant zur Deutschen Bücherei in Leipzig gegründet worden war. Haben Sie im Zuge der Vereinigung befürchtet, dass der Frankfurter Standort geschlossen wird?
Natürlich war damals die Frage, wie es weitergeht. Die Planungen für den Neubau an der Adickesallee waren schon weit gediehen und der damalige Generaldirektor hat mit großer Überzeugung dafür eingestanden, dass es von Vorteil ist, zwei Standorte zu erhalten. So können beide Häuser als gemeinsame Institution fortbestehen, die seit 2006 Deutsche Nationalbibliothek heißt.
Wie hat sich die bibliothekarische Arbeit seit Anfang der 1980er-Jahre verändert?
Früher habe ich noch bibliografische Daten auf der Schreibmaschine getippt, die Informationen über unsere Medien waren in Zettelkatalogen versteckt und die Publikation eines Heftes der Deutschen Nationalbibliografie dauerte mehrere Wochen. Über die sogenannten Schreibautomaten oder „dummen Terminals“ ging es dann schnell zum Computer. Musste früher alles intellektuell erschlossen werden, geschieht das mehr und mehr automatisiert. Letztlich hilft uns die Digitalisierung. Ohne automatisierte Erschließungsverfahren könnten wir die ständig wachsende Menge an Publikationen nicht mehr bewältigen.
Gleichzeitig stellt die digitale Welt Sie vor ungeheure Herausforderungen, weil quasi jeder zum Verleger wird und jede Website eine Veröffentlichung darstellt. 2006 hat der Gesetzgeber Ihren Sammelauftrag um den vagen Begriff „Netzpublikationen“ erweitert. Haben Sie damals gedacht „Ach du lieber Himmel, auch das noch“?
Ein bisschen schon, aber wir haben uns natürlich vorbereitet. Digitale Medien werfen ja ganz neue Fragen auf. Was ist eine Netzpublikation im Sinne des Sammelauftrages? Wie kommt man an die Daten heran? Wie ist es mit den Urheberrechten? In welchen Formaten lassen die digitalen Publikationen sich speichern, dass wir sie verwalten und zugänglich machen können – heute und in drei Jahrzehnten? In vielerlei Hinsicht haben wir hier Neuland betreten und tun es noch. Wir sagen aber ganz offen, dass wir im digitalen Bereich nie alles werden sammeln können. Unser Anspruch ist vielmehr, ein Bild der Zeit einzufangen.
Was bedeutet das konkret?
Verlage lassen uns Publikationen inzwischen vollautomatisiert zukommen. Auf diesem Wege erhalten wir momentan etwa die digitalen Ausgaben von annähernd 1.100 wissenschaftlichen Zeitschriften und täglich die E-Paper von fast 1.000 Tageszeitungen sowie 700 E-Books.
Sie konzentrieren sich also auf die Teile im Netz, die den traditionellen Publikationsformaten entsprechen?
Nicht nur. Beim Webharvesting sammeln wir zum Beispiel die Websites von Ministerien, Verbänden und großen Unternehmen ein. Und wir sind uns durchaus bewusst, dass die klassischen Formate im Netz mehr und mehr aufweichen. Manche digitale Magazine erscheinen ja nicht mehr als Ausgaben, vielmehr werden einzelne Beiträge hochgeladen. Das potenziert für uns das erforderliche Datenmanagement. Oder nehmen wir Nachrichtenportale, die ständig aktualisiert werden. Hier suchen wir gemeinsam mit den Anbietern nach praktikablen Lösungen. Es wird uns also nicht langweilig.
Geraten Sie eigentlich durch Google & Co. unter Rechtfertigungsdruck? Wieso etwa sollte ich Informationen über ein Buch in Ihrem Katalog suchen, wenn ich sie auch googeln kann?
Wir haben ja nur mit einem Segment von Google zu zun. In diesem arbeiten wir aber viel genauer und qualitätsgeprüfter – und jenseits von kommerziellen Interessen. Das Netz ist von digitaler Amnesie geprägt und wir arbeiten gegen diese „Vergesslichkeit“. Ein Beispiel: Unser URN-Service sorgt dafür, dass man eine digitale Publikation auch dann noch findet, wenn die URL längst veraltet ist. Übrigens nutzen Google und andere Dienste Teile unserer bibliografischen Daten, was auch in Ordnung ist, weil unsere Bestände damit bei Google oder auch bei Wikipedia gut platziert sind. Ich bin überzeugt, dass wir unsere jungen Nutzer bei deren Recherchegewohnheiten abholen müssen. Viele merken dann, dass sie bei uns umfassendere Informationen bekommen können. Insofern bringt Google Teile seiner Nutzer zu uns.
Mit dem Neubau in Frankfurt an der Adickesallee wurde auch ein Erweiterungsbau auf der anderen Straßenseite mitgeplant. Werden Sie den noch benötigen, wenn die Zukunft ganz digital sein wird?
Seit Jahren wird vorausgesagt, dass elektronische Medien die physischen ablösen werden. Wir merken davon allerdings noch nichts. 2013 hatten wir wieder fast 700.000 physische Neuerwerbungen, darunter mehr als 270.000 Bücher. Das Digitale wächst zwar enorm an, das Physische wird aber nicht weniger.
von Christian Sälzer (25.11.2014)