„Unterfordere nie das Frankfurter Publikum“
Als Literaturreferentin im Kulturamt hat Sonja Vandenrath Zeichen gesetzt, vor allem mit der Konzeption neuer Literaturfestivals. Ein Gespräch über das Gespenst des Events, das Buch als Zwitter, den Suhrkamp-Schock und kuratorische Leidenschaften.
Den Schweizer Platz vor der Nase, das Cafe Fellini im Rücken, eine Tasse Kaffee auf dem Tisch, ein Buch in der Hand. Hier und so kann man Sonja Vandenrath häufig in der Mittagspause antreffen. Heute hält sie einen gelben Reclam-Band in der Hand. Goethe. Es riecht nach Klassiker.
Frau Vandenrath, warum heute Goethe – und welcher?
„Die Laune des Verliebten“, ein ziemlich unsägliches Rokoko-Schäferspiel. Na ja, das hat er mit 18 geschrieben. Ich lese es in Vorbereitung der anstehenden Goethe-Festwoche, bei der es um die Entwicklung der amourösen Literatur gehen wird.
Wie lesen Sie ein Buch?
Ich gehe sehr analytisch an Texte heran. Die Handlung interessiert mich weniger als die Frage, wie ein Text strukturiert und gebaut ist und wie er funktioniert. Man braucht ein wissenschaftliches Regelwerk, um der Komplexität von Gedichten oder Romanen gerecht zu werden, sie zu durchdringen und in der Tiefe zu ergründen. Macht man das nicht, führt das nur zu assoziativem Geplapper. Ich halte nicht viel von Theorieverdikten und bin skeptisch gegenüber aller Intuition, wiewohl ich mir bewusst bin, dass Empathie und ein Sensorium für künstlerisches Material, für die Sprache, den Rhythmus und die Tektonik eines Textes unbedingt dazugehören.
Sie sind Literaturreferentin in Frankfurt geworden, nachdem die Buchmesse mit Abwanderung nach München gedroht und das Selbstverständnis Frankfurts tief erschüttert hatte. Gibt es da einen Zusammenhang? Schließlich war Ihre Stelle zuvor lange nicht besetzt.
Das weiß ich nicht. Ich kam neu in die Stadt und mir war ein freier Blick wichtig. Klar war, dass Frankfurt ein herausragendes literarisches Feld mit einer einmaligen Infrastruktur rund um das Buch ist. Dass hier auch eine erkleckliche Zahl guter Autoren lebt, war mir seinerzeit zu wenig bewusst. Ehrlich gesagt kam mir Frankfurt als Literaturstadt etwas selbstzufrieden vor, alles war auf ein kleines, etabliertes Publikum zugeschnitten. Mir hat hier zum Beispiel die Subkultur gefehlt. Das wollte ich ändern und etwas organisiertes Chaos stiften. Ich bin zwar wissenschaftlich geprägt, aber noch heute sehr neugierig auf subkulturelle Prozesse.
Eine Off-Szene kann man sich aber nicht backen.
Aber man kann das, was es gibt, fördern und nach vorne bringen. Ich war zum Beispiel unglaublich dankbar, als Initiativen wie „Text & Beat“ oder „poetry slam! Frankfurt“ an mich herantraten.
Weil es neben der Frage, was präsentiert wird, auch darum geht, wie es präsentiert wird?
Ja, es ist ungemein wichtig, einen Prozess in Gang zu setzen, in dem mit neuen Formaten der Literaturvermittlung experimentiert wird. Frankfurt ist als verdichtetes literarisches Feld ein geradezu idealer Ort, um neue Wege zu erkunden. Was die Resonanz betrifft, so kann ich nur sagen: Selten habe ich ein solch intelligentes Publikum erlebt. Du kannst alles tun, nie aber darfst du das Frankfurter Publikum unterfordern.
Warum reicht es heute nicht mehr, einen Autor einfach aus seinem Werk vorlesen zu lassen?
Für manche ist die pure Lesung genau das Richtige. Andere haben aber auch nichts dagegen, wenn das an einem reizvollen Ort in einem ungewöhnlichen Format passiert, wenn Spartengrenzen überschritten werden und sich Literatur etwa mit Musik mischt – kurz, wenn Literatur neuartig inszeniert wird.
Man könnte auch sagen, dass ein größerer Aufwand betrieben werden muss, um noch die gewünschte Aufmerksamkeit zu erzielen. Ist der literarische Event eine Reaktion auf die Krise des Buches?
Das Gespenst des Events hat längst seinen Schrecken verloren. Grundsätzlich würde ich schon sagen, dass die verstärkte Inszenierung von Literatur mit der Krise auf dem Buchmarkt zu tun hat. Man muss heute einfallsreich und innovativ sein, wenn man in der Branche überleben will.
Sie sollen Frankfurt kulturell als Literaturstadt profilieren und gleichzeitig als Buchstadt positionieren. Vermischt sich hier Kulturpolitik nicht unmittelbar mit Wirtschaftspolitik?
Stärker als eine Opernaufführung oder ein Museum ist das Buch ein Zwitter: Es ist unendlich oft reproduzierbar und als Produkt für einen Massenmarkt immer Kultur- und Wirtschaftsgut. Ich habe also nicht nur das Künstlerische und das Publikum im Blick, sondern auch die wirtschaftlichen Interessen hiesiger Verlage, Autoren oder Buchhandlungen. Insofern: ja. Wenn wir ein Literaturfestival ausrichten, tragen wir zum kulturellen Angebot der Stadt und ihrer Reputation bei, es ist aber auch eine Form, um Bücher als Produkte zu vermarkten.
Tatsächlich haben Sie mit eigenen Literaturveranstaltungen Zeichen gesetzt. Von literaTurm und den Frankfurter Lyriktagen über die Frankfurter Premieren, bei denen hiesige Verlage oder Autoren ihre Neuheiten präsentieren, bis zu Open Books.
Es gibt heutzutage eine Masse an Literaturveranstaltungen. Mir ist es aber wichtig, stimmige, unverwechselbare Angebote mit einem eigenen Profil zu schaffen. literaTurm etwa ist ein einzigartiges, transdisziplinär ausgerichtetes Konzeptfestival, das zudem in Hochhäusern stattfindet, wie es sie nur in Frankfurt gibt. Open Books hingegen ist als offenes Lesefest während der Buchmesse konzipiert, das um den Kunstverein als zentralen und coolen Ort herum gruppiert ist.
Open Books ist just in dem Jahr gestartet, in dem der Suhrkamp-Verlag seinen Wegzug angekündigt hat. Das Flaggschiff geht – und Frankfurt lässt lesen?
Als Suhrkamp ging, herrschte tatsächlich kurz Panik und Open Books war eine der Reaktionen. Frankfurt hat inzwischen gezeigt, dass ein bedeutender Verlag nicht durch Lesungen und Veranstaltungen ersetzt werden kann, sich dessen Weggang aber wohl kompensieren lässt – und der Anspruch eine Literaturstadt zu sein substanziell gefüllt bleibt. Früher galt, dass der Buchbetrieb in Frankfurt arbeitet und in Berlin seine Bühne hat. So ist es nicht mehr, inzwischen gibt es auch hier eine differenzierte und lebendige Szene, in der alle auf ihre Weise an dem Projekt Literaturstadt mitwirken, auf der hochkulturellen genauso wie auf der popkulturellen Schiene.
Auffällig ist aber, in welch starkem Maße das Kulturamt die Bühne selbst bespielt. Wäre es nicht eher seine primäre Aufgabe, eine dauerhafte Infrastruktur zu finanzieren, als eigene Festivals zu organisieren? An anderer Stelle unterhält die Stadt ja auch Museen und Theater, für das Profil sind aber die jeweiligen Direktoren und Intendanten mit ihren Ausstellungen und Aufführungen verantwortlich.
Seit es Literatur im Römer gibt, also eigentlich schon ewig, tut das Kulturamt beides. Das heißt, wir fördern und wir arbeiten operativ, was sich durchaus ergänzt. Wir setzen also durch Eigenveranstaltungen programmatische Akzente. Mit gleichem Elan unterstützen wir literarische Projekte der freien Szene und finanzieren Institutionen wie das Literaturhaus, die Romanfabrik und das Hessische Literaturforum.
Ihr Etat ist seit 2006 gewachsen, die zusätzlichen Gelder sind aber vor allen Dingen in eigene Veranstaltungen geflossen.
Ich wollte nie lediglich verwalten. Ich habe eine kuratorische Ader und bin eingestellt worden, um durch Programmarbeit nach außen zu wirken. Ich würde auch sagen, dass ich einen Instinkt für Festivals habe. Und hätte ich das Gefühl, unsere Veranstaltungen würden nicht laufen, würde ich sie sofort einstellen. Die große Nachfrage und die immens positive Resonanz legen das aber nicht nahe.
Sie sind auch mit dem Anspruch angetreten, von den Frankfurter Autoren zu erfahren, was sie benötigen. Mit welchem Ergebnis?
Autoren brauchen Möglichkeiten, sich zu präsentieren und ihre Arbeiten bekannt zu machen. Unter anderem deshalb haben wir die Reihe Frankfurter Premieren eingeführt, die Neuerscheinungen von Frankfurter Autoren und solche aus Frankfurter Verlagen, ob groß oder klein, präsentiert. Und wir haben das Frankfurter Autorenstipendium geschaffen.
Leben Schriftsteller nicht auch dort, wo sie das Umfeld spannend und inspirierend finden?
Ja, darum geht es auch. Frankfurt ist eine ungemein harte Stadt, in der die Gegensätze aufeinanderprallen. Ich weiß von einigen Autoren, dass sie hier leben, weil Frankfurt wie ein Seismograf ist. Wenn man nahe an den gesellschaftlichen Entwicklungen dran sein will, geht das hier jedenfalls deutlich besser als in dem selbstreferentiellen Berliner Biotop.
von Christian Sälzer (02.09.2014)