Ein Gedicht fragt nicht, es kommt einfach
Frankfurt ist eine internationale Stadt. Das zeigt sich nicht zuletzt an einer beträchtlichen Anzahl von Autoren mit ausländischen Wurzeln. So auch der renommierte Lyriker, Romancier, Dramatiker und Essayist Oleg Jurjew, der 1991 von Russland übersiedelte. Die F.A.Z. schreibt, er beherrscht virtuos alle Stilarten und Genres der Literatur.
Dass Oleg Jurjew heute in Frankfurt lebt, ist eigentlich reiner Zufall. Ende 1990 war er zusammen mit seiner Frau, der Lyrikerin und Prosaautorin Olga Martynova, für drei Wochen über ein Austauschprogramm nach Berlin gekommen. Die Lage in Russland war damals sehr unsicher und Freunde rieten ihnen, erst einmal mit der Rückkehr abzuwarten. Sie schlugen vor, nach Frankfurt zu kommen und vermittelten auch gleich eine günstige Wohnung. Glücklicherweise hatte das Paar auch ihren damals zweijährigen Sohn dabei, da sie für die Zeit ihres Auslandsaufenthalts keine Betreuung für ihn in Russland gefunden hatten. So entschlossen sie sich dazu, es, solange das Geld reicht, mit Deutschland zu probieren. Und das, obwohl sie praktisch kein Deutsch sprachen und nur solche Begriffe wie „Hände hoch!“ aus Kriegsfilmen kannten. Dann lief es ganz gut: Jurjew erhielt ein Stipendium und drei seiner Theaterstücke wurden übersetzt und hier aufgeführt. Als dann Sohn Daniel eingeschult werden musste, stellte sich die Familie auf einen längeren Aufenthalt ein und schließlich wurde man in Frankfurt sesshaft. Auf die Frage, ob er inzwischen mehr als sesshaft, nämlich heimisch geworden ist, sagt Jurjew: „Ich lebe nun seit 24 Jahren im Frankfurter Ostend, gegenüber dem Zoo, also bin ich hier auch zu Hause. Meine alte Lebenswelt wurde hier um immer neue Erfahrungen erweitert. Das empfinde ich bis heute als sehr bereichernd – nicht immer bequem, aber bereichernd.“
Dabei empfindet er Frankfurt nur während der Buchmessenzeit als Buchstadt. Den Rest des Jahres kaum. Dafür sei Frankfurt jederzeit eine wunderbare Literaturstadt, mit vielen Kollegen und Freunden aus dem literarischen Leben. So war dann auch das Literaturhaus für Jurjew von Anfang an, damals noch in der Villa Hoffmann in der Bockenheimer Landstraße, ein wichtiger Anlaufpunkt. „Das Kulturdezernat mit seinen vielen Literaturprojekten schafft eine ganz besondere literarische Atmosphäre – nicht nur für das Frankfurter Publikum, sondern auch für auswärtige Autoren.“ Das literarische Angebot in der Stadt sei insgesamt groß, vielfältig und auch qualitativ gut.
Russisch oder Deutsch? Jurjew verfasst seine Texte inzwischen in beiden Sprachen. Gedichte immer auf Russisch, Prosa und Essays meistens auch. Auf Deutsch schreibt er Artikel und wenn er um essayistische Beiträge oder Kurzprosa gebeten wird. Er mag die deutsche Sprache und schreibt gerne auf Deutsch, versteht sich aber in erster Linie als ein russischer Autor, der auch auf Deutsch schreibt. Zu den russischen Emigranten-Schriftstellern will er sich nicht rechnen, da diese Kategorie für ihn heute nicht mehr wirklich existiert. So verliefen die Trennlinien in der russischen Gegenwartsliteratur nicht mehr an den Landesgrenzen, sondern seien durch literarische und weltanschauliche Aspekte gekennzeichnet. Die Stoffe, mit denen er sich beschäftigt, stammen aber häufig aus dem Russland nach der Sowjetunion. Beispielsweise die Trilogie „Halbinsel Judatin”, „Der neue Golem oder der Krieg der Kinder und Greise” und „Die russische Fracht“, in der er das Chaos der Zeitenwende grotesk, komisch, ironisch, aber auch tiefsinnig beschreibt. Dass er sich mit der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und den damit verbundenen radikalen Veränderungen der Weltordnung beschäftigt, scheint ihm nur logisch. Er sei schließlich von dieser Entwicklung unmittelbar betroffen und versuche mit seinem Schreiben diesen Zeitenbruch „bewohnbar“ zu machen. „Ich habe aber beispielsweise auch den Prosaband „Der Frankfurter Stier“ geschrieben, eine Novelle daraus beschreibt eine Begebenheit aus einer Chronik der jüdischen Gemeinde Frankfurts. Insgesamt bewege ich mich mit meinen Werken quer durch die Jahrhunderte.“
Jurjew wurde 1959 als Sohn einer Hochschullehrerin und eines Violinisten in Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, geboren. Anfang der 70er-Jahre hat er sich der Lyrik verschrieben und war in den Folgejahren Teil der Literaturszene seiner Heimatstadt. Seine Erinnerungen daran sind durchaus positiv. Und das nicht nur, weil er 1981 seine Frau, die damals ebenfalls schon Autorin war, bei einer sogenannten Wohnungslesung zum ersten Mal gesehen hat und sie seither gemeinsame Wege gehen. „Diese Veranstaltungen und viele andere Aktivitäten waren alle inoffiziell“, erinnert sich Jurjew. „Die Literaten waren alle sehr gut untereinander vernetzt. Wie immer, wenn die Lage schlecht ist, gewinnt die Kultur im Allgemeinen und die Literatur im Speziellen an Bedeutung. Leider lässt sich dieses Phänomen auch umgekehrt beobachten. Wenn es der Gesellschaft sehr gut geht, werden die Leute satt und interessieren sich nicht mehr so sehr für Literatur. Jedenfalls gibt es diese Szene von damals nicht mehr.“
Die Besonderheit, als Schriftsteller mit einer Schriftstellerin verheiratet zu sein, ist für ihn ganz normal. Er kenne es ja nicht anders, finde es aber sehr praktisch. Man könne sich seine Werke gegenseitig anvertrauen und müsse sie nicht mit Fremden besprechen. Außerdem sei es sehr angenehm, zusammen auf Lesetour zu gehen. Neulich war die Familie sogar zu dritt auf einem Podium – zusammen mit dem inzwischen 26-jährigen Sohn Daniel, der derzeit noch an der Uni in Frankfurt studiert. An die finanzielle Unsicherheit einer Schriftstellerfamilie hat sich Jurjew längst gewöhnt: „Über solche Risiken denke ich nicht mehr nach. Ich schreibe und lebe einfach weiter, sonst müsste ich auch einen anderen Beruf wählen.“
Bemerkenswert ist, dass er, der als Lyriker angefangen hat, heute in ganz verschiedenen Formaten unterwegs ist: Er schreibt Essays, Prosa, Romane und Bühnenstücke. Dabei fällt ihm der beständige Genrewechsel nicht schwer. Denn die Herangehensweise sei ganz unterschiedlich. „Ein Gedicht fragt dich nicht, es kommt einfach und muss dann sofort heraus. Wenn ich einen Roman schreibe, bedarf es einiges an Vorarbeit und ich versuche, jeden Tag daran zu arbeiten. Dann mache ich meine Arbeit wie jeder andere auch.“
von Ulrich Erler (31.03.2015)