Bücher auf Rädern
Wenn der Leser nicht zum Buch kommt, muss das Buch eben zum Leser kommen. Sprich, dort wo es keine Stadtteilbibliotheken gibt, schickt die Stadtbücherei zwei Bücherbusse auf den Weg, um im Frankfurter Stadtgebiet die sogenannte Grundversorgung zu sichern. Norbert Schindler leitet die Fahrbibliothek.
„Habt ihr euch denn auch ein Buch ausgesucht oder wollt ihr nur Spiele für die Playstation ausleihen?“, fragt Norbert Schindler drei aufmüpfige Steppkes aus der Ginnheimer Platensiedlung, die sich an seiner Entleihstation im Bücherbus drängeln. Die drei sind Stammgäste und wissen schon, wie das im Bücherbus läuft: Es geht zwar locker zu – in Fachkreisen wird das niederschwelliges Angebot genannt –, aber schon aufgrund der Enge sind gewisse Verhaltensmaßregeln einzuhalten. Und daran sind manche jungen Ausleiher eben ab und an zu erinnern. „Kleine Erziehungsmaßnahmen“ nennt das Schindler. „Und wenn ich die Jungs dazu bringen kann, auch Bücher zu lesen und nicht nur am Bildschirm zu zocken, umso besser – meistens klappt es.“ Heute sind neben den Multikulti-Kids aus den dreistöckigen Wohnblocks der ehemaligen amerikanischen Platen Housing Area auch Kinder einer freien Frankfurter Schule im Bus. Daraus entsteht ein Gewimmel, wie es bunter kaum sein könnte. Für Schindler und Stefanie Beier, die Mitarbeiterin, mit der er heute auf Tour ist, bedeutet das, eine Dreiviertelstunde lang Vollgas zu geben – obwohl der Bus steht.
Schindler und seine fünf Mitarbeiter kennen die meisten ihrer Kunden mit Namen und wissen, was sie bevorzugt entleihen. Wobei die Mehrzahl Kinder im Alter bis etwa 13 Jahre sind. Danach gibt es den berühmten Leseknick. Ob dann überhaupt nicht mehr gelesen wird oder ob sich die Jugendlichen ihre Bücher anderweitig besorgen, kann Schindler nicht beurteilen. Schade findet er, dass er dann oft nicht mehr mitbekommt, wie sich die Jugendlichen weiterentwickeln, die er eine ganze Weile begleitet hat. Der Spaß im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist auf jeden Fall Voraussetzung für die Arbeit im Bücherbus. Hinzu kommen das Unterwegssein und die verschiedenen Stationen: Überall dort, wo es keine Stadtteilbibliotheken gibt, werden an fünf Nachmittagen in der Woche über 30 Haltestellen in Quartieren mit ganz unterschiedlicher Bevölkerungsstruktur angefahren. So unterscheidet sich beispielsweise das Klientel in Nieder-Erlenbach von dem in Nied oder Fechenheim deutlich. Aber Schindler kann mit allen gut und liebt die Abwechslung.
Pro Haltestelle wollen zwischen 30 und 50 Nutzer betreut werden, manchmal sind es aber auch 100 und an Spitzentagen am Frankfurter Bogen sogar an die 200. Das heißt dann: Geliehene Bücher zurücknehmen, neue Bücher ausleihen, wenn das EDV-System mal wieder abstürzt, cool bleiben und im Notfall erst einmal so notieren und später einbuchen, eine ältere Dame, die kaum Deutsch spricht, beraten, welches Buch für ihren sechsjährigen Enkel wohl geeignet wäre, einer jungen Mutter ein Lesestart-Set der Stiftung Lesen mitgeben, ein Ratgeberbuch in der Zentralbibliothek vorbestellen, die Teilnahmescheine für das BibQuiz einsammeln, die Jungs ermahnen, dass sie auch mal die anderen an das Regal mit den Konsolenspielen lassen, herausgezogene Bücher wieder einsortieren und so weiter und so fort.
Allein wäre das nicht zu bewältigen. Auch deshalb werden die Touren immer in Zweierteams gefahren. Ein Arbeitspult befindet sich vorne neben dem Fahrersitz und eines am Busende. Eigentlich soll vorne ausgeliehen und hinten zurückgegeben werden. Das funktioniert nicht immer. Aber das Bücherbus-Team ist kulant, auch die Rückgabefristen sind hier großzügiger gesetzt. Die Touren starten immer am Depot, das sich unweit der Jahrhunderthalle befindet. Dort lagern etwa 20.000 Titel. In den zwei Bussen können jeweils rund 5.000 Medien untergebracht werden, wobei das Angebot kontinuierlich der Nachfrage angepasst wird. Fantasy läuft gerade ziemlich gut, erzählt Schindler, Warrior Cats sind der Renner und Harry Potter erlebt ein Revival.
Zieht man eine Parallele zum Einzelhandel, sind die Bücherbusse eher mit Tante-Emma-Läden vergleichbar, während die Zentralbibliothek in der Innenstadt mit ihrem umfangreichen Angebot eher einem Shopping-Center gleichkommt. Aber anders als ein stationärer Krämerladen kann die Fahrbibliothek ihre Haltestellen bei Bedarf anpassen. Denn Stadtteile verändern sich. Wenn die Anzahl der Rollatoren die der Kinderwägen übersteigt – Senioren nutzen erstaunlicherweise den Bücherbus eher selten –, sinkt auch die Nutzerzahl. Dann gilt es dort, wo die Kinderdichte größer ist, neue Stellplätze ausfindig zu machen. Aktuell überarbeiten Schindler und sein Team die Touren. „Fahrplanoptimierung“ nennt er das. So sollen mehr Schulen und Kindergärten angefahren werden und den neuen Stadtteilen und Wohnsiedlungen wie Riedberg, Europaviertel oder dem Gebiet rund um die Friedberger Warte soll Rechnung getragen werden. Bei der Auswahl der Haltestellen geht es Schindler neben der Nähe zur Zielgruppe um drei Dinge: „Es sollte nicht bereits eine Stadtteilbibliothek in der Nähe sein, der Platz und damit der Bus mit seinem auffälligen Erscheinungsbild sollte aus vielen Richtungen zu sehen sein und der Einstieg sollte ohne Beeinträchtigung durch den Straßenverkehr gefahrlos möglich sein.“
Angefangen hat in Frankfurt alles 1929: Ein Bus fuhr damals sechs Ausleihstationen an. Wegen großer Nachfrage kam 1963 ein zweiter Bus dazu und die Anzahl der Haltestellen wurde auf 20 erhöht. Bei heute etwa 70.000 Besuchern und über 150.000 Ausleihen im Jahr sind die – über 12,2 Meter langen, 3,3 Meter hohen, 2,5 Meter breiten, etwa zwölf Tonnen schweren und 300 PS starken – Busse echte Publikumsrenner. Neben der eigentlichen Ausleihe ist die Fahrbibliothek auch in der Leseförderung aktiv: Bucht eine Schule oder Kita den Bus, macht er auch dort für einen Vormittag Station. Auch beim DeutschSommer in Zusammenarbeit mit der Polytechnischen Gesellschaft fährt er vor. Eine besonders schöne Sache ist das Bilderbuchkino, bei dem im Bus Bilderbuchseiten an eine Leinwand projiziert werden und ein Mitarbeiter des Teams den Kindern daraus vorliest. Dann kann es im sonst so trubeligen Bus auch einmal ganz still werden.
von Ulrich Erler (22.12.2015)