Die Buchretterin
Papier ist geduldig. Aber auch verletzlich. Zum Glück gibt es Menschen, die selbst Jahrhunderte alte und schwer geschundene Bücher wieder in Form bringen können. Ein Besuch bei der Papier- und Buchrestauratorin Martina Noehles.
Auch Bücher sterben. Unwürdig und früh trifft es solche, die von den Verlagen ohne jemals ausgeliefert worden zu sein geschreddert werden. Ein erfüllteres Leben haben jene, die herumgekommen und durch viele Hände gegangen sind, bevor sie eines Tages in der Papiermülltonne landen. Privilegiert sind Bücher in manchen Bibliotheken, Archiven und Sammlungen. Sie werden sachgemäß gelagert und ihre Alterserscheinungen werden fachkundig behandelt. Das größte Glück aber haben jene Exemplare, die bei Martina Noehles landen. Die erfahrene Expertin für lebenserhaltende Maßnahmen bei Büchern versteht es, noch den geschundensten und schwerst geschädigten Werken viele glückliche Jahre zu verschaffen.
Ihre „Rettungsstation“ befindet sich hinter Offenbach in der Nähe des Mühlheimer Bahnhofs. In einem Haus, in dem einmal Koffer gefertigt wurden, ist das Atelier Carta untergebracht. Zwei schmale Treppen führen hinauf, dann öffnet sich eine lichtdurchflutete, großzügige Etage. Viel Platz gibt es dennoch nicht. Ein halbes Dutzend Arbeitstische füllen den Raum, daneben unzählige Schränke mit verschiedenen Papieren, Lösungsmitteln und Werkzeugen, Regale, in dem großformatige Drucke trocknen, gewaltige gusseiserne Schneidemaschinen und spezielle Geräte wie „der Abzug“: Auf der gefliesten Arbeitsfläche wird mit Lösungsmitteln hantiert, deren Dämpfe durch eine Abzugshaube ins Freie befördert werden. Einige dieser Vorrichtungen hat Noehles selbst entworfen, zum Beispiel „die Wässerung“. In dem Becken werden Papiere in speziell aufbereitetem Wasser nassbehandelt, um die den Zerfall fördernde Säure zu neutralisieren und im Einzelfall auch Verbräunungen zu entfernen.
Noehles bewegt sich achtsam durch den Raum. Schließlich sind die fragilen „Patienten“ auch da. Keiner ist jung, an manchen nagt der Zahn der Zeit seit Jahrzehnten, an anderen seit Jahrhunderten. Und alle sind kostbar, sei es der jüngst nassbehandelte Siebdruck, sei es die drei mal sieben Meter große Felsbildkopie einer Höhenmalerei aus den 1920er-Jahren, sei es der kolorierte Homann-Atlas von 1712. Allein dieser in Leder gebundene Trümmer von einem Buch ist mehrere Tausend Euro wert. Neben Büchern kümmert sich Noehles um Grafiken, Archivalien, also Urkunden, Akten oder Briefe, ebenso um zeitgenössische Kunstwerke und Lederobjekte. Die Aufträge kommen auf der einen Seite von Museen, Bibliotheken und Archiven und auf der anderen von privaten Sammlern. Aber auch Banken vertrauen ihr Werke aus ihren Kunstsammlungen an und Versicherungen melden sich, wenn Schadenfälle zu klären und zu beheben sind. Und weil es von all dem im Rhein-Main-Gebiet eine Fülle gibt, muss sich Noehles zumeist keine Sorgen um Aufträge machen – zumal sie nach mehreren Jahrzehnten in den überschaubaren und gut vernetzten Szenen der kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen sowie der Sammler bekannt ist. Werbung macht sie jedenfalls nicht. „In der Restaurierung ist die Empfehlung das Wichtigste.“
Was sie an ihrem Beruf mag? Dass solch schöne und unterschiedliche Objekte zu ihr gelangen. Und dass die Arbeit so viele Facetten hat, von kunsthistorischen über naturwissenschaftliche bis zu manuellen. Natürlich hat sie oft mit 08/15-Schäden zu tun: Wasserschäden, Risse, Fehlstellen, Verbräunungen. Letztere können viele Ursachen haben, z.B. säurehaltige Bestandteile des Papiers, Licht oder auch Kupferfraß. Bei einigen Flecken ist es schwer zu klären, wodurch sie entstanden sind. „Der Fleck sagt mir nicht, woher er stammt.“ Vor jedem restauratorischen Eingriff wägt sie genau ab, ob und in welcher Form in die originale Substanz eingegriffen wird. Woher aber weiß sie, wie sie einem konkreten Schaden zu Leibe rückt, ohne das Werk weiter zu schädigen? Wie kann sie etwa wissen, ob in einem bestimmten Fall als Lösungsmittel Isoprophylalkohol, Ethylacetat oder Petrolether am geeignetsten ist? Noehles lächelt, wie nur eine lächeln kann, die sich mit solchen Fragen seit Jahrzehnten beschäftigt. Erstens mache sie Tests, bevor sie eine Arbeit beginnt. Und zweitens? „Erfahrung.“ Sie führt in einen Nebenraum, der eine gewaltige Bibliothek umfasst: ein Meer an Fachliteratur. „Man muss wissen, was man tut und sich ständig fortbilden, daher nehmen wir an vielen Fortbildungen und Kongressen teil.“
Mit „wir“ meint Noehles sich und ihr Team. Heute sind noch drei andere Frauen im Atelier Carta tätig. Ihre feste Mitarbeiterin Lena Niehus sitzt an einem 1922 in Moskau erschienenen Band über französische Porzellankunst. Den Rücken hat sie bereits erneuert, Risse geklebt und Fehlstellen ergänzt. Um zu verstehen, was allein das bedeutet: Aus einem reichen Repertoire an Papiersorten wird ein passendes ausgewählt und möglichst originalgetreu eingefärbt. Von diesem schneidet sie das benötigte Ergänzungsstück zu. Am Rand schabt sie mit einem Skalpell die oberste Schicht ab, sodass eine Klebefläche entsteht. Mit dem selbst gekochten Reisstärkekleister wird das Stück eingefügt und auf der Rückseite mit einem Streifen eines extrem dünnen und äußerst reißfesten Japanpapiers stabilisiert. Damit ist eine Fehlstelle ergänzt. Dutzende werden folgen. Ohne Geduld geht hier nichts.
Natürlich ist vieles Routine. Und doch verlangt jedes Buch und jedes Werk eine individuelle Behandlung. Richtig in Schwung kommt Noehles, wenn ein „interessanter Schaden“ auf ihrem Tisch liegt. So wie die in Pergament gebundene Handschrift des Arztes Johannes Magirus aus dem 17. Jahrhundert, die in einer Ausstellung gezeigt werden sollte, sich aber in desolatem Zustand befand. Der Pergamenteinband wies Fehlstellen und starke Gebrauchsspuren auf, vor allem hatte sich der Einbandrücken weit nach innen gezogen und sich der Buchblock extrem nach außen gewölbt, sodass das Buch kaum noch aufzuschlagen war. Für Noehles war das eine reizvolle, aber auch heikle Aufgabe. Einige Wochen verbrachte das Buch in Mühlheim. Nachdem sie es nach einem langen Entscheidungsprozess und in Absprache mit den Auftraggebern in seine Einzelteile zerlegt, diese gesäubert, neu gebunden und gegengeformt hatte und es ihr dann sogar gelungen war, den Buchblock wieder in die Originaldecke einzupassen, war es geschafft: Ein „halbtotes“ Buch war wieder zum Leben erweckt worden.
von Christian Sälzer (03.02.2015)