Scharlatanerien aus dem Rathaus
Martin Wimmer, rechte Hand des Frankfurter Oberbürgermeisters, hat gerade sein neues Buch vorgestellt. Überraschend, für die, die ihn kaum kennen. Konsequent, für die, die um seine künstlerischen Projekte wissen.
Als Frank Witzel seinen Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ vorlegte, dachte man, die maximale Länge eines Buchtitels sei erreicht. Doch länger geht immer. Also hat Martin Wimmer noch einen draufgesetzt. „Ich bin der neue Hilmar und trauriger als Townes. Eine Kulturgeschichte der deutsch-texanischen Beziehungen, eine politische Autobiographie, die Poetikvorlesung eines leidenschaftlichen Sprachspielers, abenteuerliche Rezensionsreisen zu Songs, Filmen und Büchern – und vor allem ein Plädoyer für ein wildes, freies Leben voller Liebe“ heißt sein gerade bei Weissbooks erschienenes Debüt. Der Verleger wollte zumindest die Passage nach dem Gedankenstrich kürzen. Der Autor nicht. Die Liebe sei doch das Wichtigste. Aber worum geht es in diesem Buch, das auf den ehemaligen Kulturstadtrat Hilmar Hoffmann und den texanischen Singer-Songwriter Townes Van Zandt anspielt? Und wer ist dieser Martin Wimmer überhaupt, von dem in Frankfurt immer öfter die Rede ist?
Wimmer stammt aus Oberbayern. Das hört man nicht nur, es macht sich auch im Umgang bemerkbar. Schnell ist man beim Du. Vorgeplänkel oder Smalltalk braucht es nicht. Wimmer gibt sich lässig unprätentiös, authentisch und verbindlich. Geboren wurde der 48-Jährige in Mühldorf am Inn, nahe des Wallfahrtsorts Altötting, unweit der österreichischen Grenze. Aufgewachsen ist er in den begrenzten Verhältnissen einer bodenständigen Familie, was ihn nicht daran hinderte, bereits im Teenageralter auf dem Mühldorfer Marktplatz Gedichte zu rezitieren und sich in den unterschiedlichsten Schreibdisziplinen auszuprobieren. Er erntete zwar nur Kopfschütteln, aber es zeigte sich schon damals: Da ist einer, der sich was traut und für die Dinge einsteht, die ihm wichtig sind. Nach dem Abitur folgte der damals noch obligatorische fast zweijährige Zivildienst. Diese Zeit in einer Behinderteneinrichtung mit Gärtnerei hat ihn nachhaltig geprägt, wie er heute sagt. Später zog es ihn nach München, wo er Germanistik, Soziologie und Politologie studierte. „Ich folgte meiner damaligen Freundin, ein Beziehungsmuster, das sich auch danach bewährt hat.“
Obwohl er zwischenzeitlich auch eine Zusage für das Literaturinstitut Leipzig hatte, heuerte er nach Abschluss des siebenjährigen Studiums bei einer Werbeagentur an. Dort verantwortete er zunächst die „Big Mac Nachrichten“, das Mitarbeitermagazin von McDonald’s, und betreute bald Big Player aus der New Media Branche. In dieser Zeit fand auch der Anschlag auf das World Trade Center in New York statt: „9/11 habe ich entsetzt live bei der Arbeit verfolgt. Das war für mich eine echte Zäsur und ich wollte meinem Leben eine neue Richtung geben.“ Er kehrte München, das längst zu seiner Stadt geworden war, den Rücken, zog auf die Schwäbische Alb und nahm bei Ratiopharm einen Job in der Kommunikation an. Nach seiner Zeit in der Bohème der bayerischen Metropole führte er nun so etwas wie ein Einsiedlerleben. Seine Freizeit verbrachte er entweder in der Natur oder in seinem Schreib- und Lesezimmer. Bei der Arbeit lernte er seine ebenfalls aus Oberbayern stammende spätere Frau kennen, mit der er dann zurück nach München zog. Wimmer arbeitete fortan beim Siemens-Konzern, wo er Fusionen und Unternehmensverkäufe organisierte. „Hier musste ich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenbringen, die es eigentlich nicht gewohnt sind, miteinander zu reden“, beschreibt Wimmer seine damalige Mission. So etwas könne er gut. Doch auch im gehobenen Management ging Wimmer nie ganz auf. Er nahm sich immer wieder Auszeiten, um sich neu zu definieren und sich mit seinen künstlerischen Projekten zu beschäftigen – er stand auf Kabarettbühnen, beteiligte sich an Ausstellungen, schrieb Songs für bekannte Musiker und hielt Lesungen.
Damals dockte er auch am Institut Solidarische Moderne an, einer Denkfabrik, die über Partei- und Disziplingrenzen hinweg konkrete und durchführbare politische Alternativen zum Neoliberalismus entwickelt. In dieser Zeit entstanden auch Kontakte an den Main. Und plötzlich wurde aus dem Kommunikationsprofi Wimmer der Wahlkampfberater des Frankfurter SPD-Oberbürgermeisterkandidaten. Peter Feldmann gewann gegen alle Voraussagen die Wahl und machte Wimmer das Angebot, seine Büroleitung zu übernehmen. „Ich habe keine Minute gezögert“, sagt Wimmer, der selbst kein Parteibuch hat. Was aber treibt einen, der sich als kantiger Künstler gibt und sich ein wildes, freies Leben auf die Fahnen geschrieben hat, ausgerechnet in die schwerfällige Kommunalpolitik? „An der Weiterentwicklung der fünftgrößten deutschen Stadt entscheidend mitarbeiten zu können, ist eine Chance, die man nur einmal bekommt“, sagt Wimmer. Hier hat sich einer auf seinen eigenen Marsch durch die Institutionen gemacht.
Der Umzug von München nach Frankfurt wurde dann auf die harte Tour vollzogen: „Wir sind ein ganzes Jahr lang hier geblieben, ohne ein einziges Mal in die alte Heimat zu fahren. Weil uns klar war, dass man nur so verstehen kann, wie eine Stadt tickt.“ Inzwischen sind Martin Wimmer und seine Frau in Frankfurt angekommen und können sich sogar vorstellen, für immer zu bleiben. Besonders interessiert ist Wimmer an den linksliberalen Traditionen der Stadt und den zahlreichen spannenden Projekten, die sich unter der glatten Oberfläche Frankfurts abspielen. Dass er auch Mitglied der Kulturpolitischen Gesellschaft ist, die sich für einen erweiterten Kulturbegriff einsetzt und kulturpolitische Diskurse und Reformprozesse unterstützt, mag dazu beigetragen haben, dass er in der Öffentlichkeit als Nachfolger von Kulturdezernent Felix Semmelroth gehandelt wurde. Für Wimmer war das allerdings nie eine Option und ein reines Medienthema.
Statt Kulturpolitik macht er lieber weiterhin selbst Kultur, wobei er es liebt, mit Pseudonymen zu spielen und in andere Rollen zu schlüpfen – sei es als Willi Ehms beim Schreiben bayerischer Songtexte oder als DJ Borderlord. Geprägt wurde er einerseits durch Blues, Folk und Country, vorzugsweise aus Texas, andererseits durch bayerische Querdenker abseits der weiß-blauen Bierseligkeit, krachledernen Volkstümelei und Franz-Josef-Strauß-Herrlichkeit, wie Karl Valentin, Gerhard Polt und die Biermösl Blosn.
Nun also ein neues Buch! Wimmer geht damit sogar auf eine kleine Lesereise, die ihn nach München, Wien, Berlin, Darmstadt und am 3. November ins Literaturhaus nach Frankfurt führt. Der Weissbooks Verlag legt es allen Fans von Thomas Meinecke, Franz Dobler, Eliot Weinberger und David Foster Wallace ans Herz, die sich mit gut erzählten Abenteuern amüsieren wollen. Inhaltlich verbindet es alles, was Wimmer zwischen dem Sehnsuchtsort Texas und dem heimatlichen Oberbayern beschäftigt: Auf den ersten Blick ein tagebuchartiges Insider-Roadmovie, in dem zwischen vielen recherchierten Fakten und wasserfallartigem Namedropping mit allerlei Wortspielen und Anspielungen durch den Themendschungel schwadroniert wird. Den roten Faden bilden zitierte Songtexte. Für Wimmer ist sein Buch kein Roman, sondern „ein Hybrid aus den vielen Leben, die ich führe.“ Auf den zweiten Blick finden sich im Buch aber auch einige doppelte Böden mit einer gehörigen Portion Selbstironie. Als Rahmen dieser Scharlatanerie dient das Phänomen der Ich-Konstruktionen in den Social Media: Ich bin, was ich poste, teile, like und kommentiere – meine Bücher, meine Filme, meine Musik, meine Stars. Der Erzähler, der laut Wimmer nicht identisch mit ihm selbst sei, versucht herauszufinden, wer er ist und verliert sich dabei in den Weiten des Internets zwischen Google-Suchergebnissen, Wikipedia-Einträgen, Schriftsteller-Blogs, Facebook-Profilen, YouTube-Channels, Twitter-Accounts, Newsgroupdiskussionen und Tripadvisor-Tipps – immer geleitet durch seine ganz persönliche Filter Bubble. Wimmers zentrales Interesse besteht in der Frage, wie Ichs konstruiert werden. Ob der Leser dabei erfährt, wer Martin Wimmer ist? Vielleicht so: Ein Ich, das sich treu bleibt, indem es sich immer wieder neu erfindet.
von Ulrich Erler (12.08.2016)