Wenn Literatur auf Wirklichkeit trifft
Vor etwas mehr als zehn Jahren wurde der Westend Verlag gegründet. Und während sich andere Sachbuchverlage teilweise schwer tun, findet man die gesellschaftskritischen politischen Bücher von Verleger Markus J. Karsten immer öfter auf den Bestsellerlisten.
Als Markus J. Karsten 2004 eine Buchidee hatte, war er schon seit einigen Jahren Werbeleiter beim Campus Verlag. Eigentlich hatte er auch gar keine Ambitionen, das zu ändern. Allerdings fragte er sich – wie viele andere auch –, ob diese Welt noch zu retten ist. Und vor allem, was jeder Einzelne in seinem persönlichen Alltag dazu beitragen kann: ob im Haushalt, im Garten, auf Reisen oder beim Einkaufen. Aus dieser Überlegung heraus entstand besagte Buchidee: Der Biologe und Umweltjournalist Andreas Schlumberger sollte 50 ganz konkrete, leicht umsetzbare Tipps vorstellen, die helfen, die Natur zu schützen, natürliche Ressourcen zu erhalten und auch noch den eigenen Geldbeutel zu schonen. Zusammen mit Michael Morganti wurde für dieses Buchprojekt der Westend Verlag gegründet. Der Erfolg von „50 einfache Dinge, die Sie tun können, um die Welt zu retten“ überstieg alle Erwartungen und das Buch entwickelte sich zum Bestseller. Letztendlich wurde es in vier Auflagen gedruckt. Davon beflügelt entstand die „50-Dinge-Reihe“. Während Michael Morganti zu Random House wechselte, verabschiedete sich Markus Karsten von Campus, um seinen eigenen Verlag voranzubringen. In der Folge entwickelte er ein ambitioniertes Sachbuchprogramm mit den thematischen Schwerpunkten Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Ökologie. In diesem Segment hat sich der Westend Verlag inzwischen als feste Größe etabliert und veröffentlicht etwa 25 Bücher im Jahr.
Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte. Und man fragt sich, was Karsten wohl alles richtig gemacht hat. Gerade in einer Zeit, in der sich viele Verlagskollegen eher schwertun und in ein allgemeines Wehklagen einstimmen. Die Antwort darauf lässt sich für den Verleger, der inzwischen fünf feste und zwei freie Mitarbeiter beschäftigt, nur eingeschränkt beantworten: „Ich weiß ja nicht, was die anderen machen und kann nur über uns sprechen.“ Ein Erfolgsfaktor sei aber sicherlich die immer lauter werdende Medienkritik in der Bevölkerung: „Die Leute sind es einfach leid, die Probleme der Welt immer nur aus der gleichen Perspektive erzählt zu bekommen. Denn die entspricht oft nicht der Wirklichkeit.“ Die Medien würden zwar in einem bisher kaum dagewesenen Umfang berichten. Doch egal ob Finanzkrise, NSA, Ukraine, Griechenland oder EZB, die Argumente seien in der Regel vorhersehbar, eindimensional und blieben an der Oberfläche. Viele Dinge würden gar nicht mehr infrage gestellt, weil sie angeblich alternativlos seien, so Karsten, der mit dem Claim „Bücher für die Wirklichkeit“ für seinen Verlag wirbt. Dies gelte im Übrigen sowohl für die täglichen Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen als auch für die renommierten Tageszeitungen und Wochenmagazine. Jenseits dieses politischen Mainstreams formiere sich aber im Internet eine wachsende Gemeinde, die an belastbaren Hintergrundinformationen für die eigene Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung interessiert ist. „Wir wollen mit unserem Programm relevante Themen von kompetenten Autoren – oft mit einem gewissen Bekanntheitsgrad – für ein zunehmend kritischer werdendes Publikum aufbereiten lassen“, erklärt Karsten. „Dafür lieben uns die Leute.“ Das Potenzial seiner Titel schätzt Karsten auf etwa 10.000 bis 25.000 Exemplare ein, in Ausnahmefällen können aber schon auch einmal 50.000 Stück über die Ladentheke gehen – die Platzierungen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste sprechen für sich. „Das ist aber nicht das Kriterium, ob wir ein Buch machen oder nicht. Wir arbeiten vielmehr daran, was uns interessiert. Wir möchten aufklären, für Transparenz sorgen und kritisch nachfragen.“
Seine Kernkompetenz sieht Karsten beim Auffinden der Themen und Autoren: „98 Prozent unserer Bücher werden von uns selbst konzipiert. Da sind wir oft als Trüffelschweine unterwegs, um heute schon die Themen von morgen aufzuspüren.“ In den meisten Fällen wird ein Thema definiert und dann ein Autor gesucht, von dem man überzeugt ist, dass er es entsprechend umsetzen kann. In den meisten Fällen klappt das. „Ich kann mich gerade an keinen Autor erinnern, von dem wir eine Absage bekommen hätten“, sagt Karsten und ergänzt: „Ah doch, mit Emil Steinberger wollten wir einmal ein Buch über die Schweiz machen. Er fand die Idee auch gut, hatte aber leider keine Zeit.“ Ein anderer Autor, mit dem Karsten gerne einmal ein Buch machen würde, ist der bekannte Globalisierungskritiker Jean Ziegler.
Mit seinen Autoren wie Jörg Armbruster, Heiner Flassbeck oder Henning Venske pflegt der Verlag eine außerordentlich enge Zusammenarbeit, die weit über das übliche Verhältnis zwischen Verlag und Autor hinausgeht. Man versteht sich als Anwalt der Ideen, Gedanken, Analysen und Arbeiten seiner Autoren. Und das gilt nicht nur für den Verleger, sondern für alle Mitarbeiter des Verlages, die in recht unprätentiösen Räumlichkeiten eines 1950er-Jahre Gebäudes in der Frankfurter Innenstadt unweit der Kleinmarkthalle ihrer täglichen Arbeit nachgehen. Überhaupt wird Teamwork großgeschrieben – par ordre du mufti würde allerdings auch nicht zur politischen Ausrichtung des Verlags und zur Haltung des Geschäftsführers passen. Ob der Westend Verlag in Berlin, also in unmittelbarer Nähe der Politik, nicht besser aufgehoben wäre? Karsten antwortet schlicht: „Nö. Einerseits bin ich sehr viel außerhalb Frankfurts unterwegs, andererseits ist es auch kein Nachteil, seinen Standort im europäischen Finanzzentrum zu haben.“ Mit anderen Frankfurter Verlegern hat er relativ wenig Kontakt: „Wir ticken einfach anders als ein Verlag für Belletristik und haben im Grunde mehr Nähe zum Journalismus.“ Einmal im Jahr nimmt er trotzdem an einer Zusammenkunft mit allen Frankfurter Verlegern beim Kulturdezernenten Felix Semmelroth teil, dessen Arbeit er für aller Ehren wert hält. Den Ruf einiger Häuser nach städtischer Unterstützung, der in solchen Runden ab und an geäußert wird, kann er nicht nachvollziehen: „Was ist denn das für ein abwegiger Gedanke?“
Beim Blick in die Zukunft verrät Karsten, dass die erfolgreiche Vertriebskooperation mit dem Piper Verlag – mit dem man zwischenzeitlich auch schon einmal etwas enger verbandelt war – auf jeden Fall beibehalten wird. Und das, obwohl sich der Westend Verlag mit seiner klaren Ausrichtung schon zu einer Marke entwickelt hat und auf die überdurchschnittlich hohe Zahl von Direktbestellungen mit der Einrichtung eines Onlineshops reagieren will. Darüber hinaus sollen Kooperationen weiter ausgebaut werden – etwa mit Internet-Blogs. Und mit neuen digitalen Formaten möchte man schneller auf aktuelle Entwicklungen reagieren. Beispielsweise wäre eine Online-Veröffentlichung eines Buches in einer verkürzten Vorab-Veröffentlichung denkbar. Hinsichtlich des Programms soll weiterhin klare Kante gezeigt werden. Wobei es inzwischen auch zwei Krimis im Programm gibt, die sich im weitesten Sinne mit gesellschaftspolitischen Themen befassen. „Wir werden aber auch in Zukunft nicht jedem Trend hinterherlaufen“, stellt Karsten fest. „Vielmehr wollen wir auch weiterhin eine Gegenöffentlichkeit zum Medienmainstream schaffen.“
von Ulrich Erler (28.04.2015)