Die Extremform von Stil
Ein überschaubares Publikum, geringe Einnahmen, eine einsame Arbeit: Lyrik ist hartes Brot. Wie man davon und warum man dafür lebt? Ein Porträt von Marcus Roloff.
Der Weg der Worte in ein Gedicht ist langwierig und heikel. Bis zuletzt schwebt jedes in Gefahr, noch geschliffen, umgestellt oder geopfert zu werden. Schließlich geht es darum, mit so wenig wie möglich so genau wie möglich Welt zu entfalten. Wahrscheinlich muss man die Worte lieben, um Lyriker zu werden. Lyriker zu sein aber zwingt ihnen gegenüber zu Strenge. Lyrik ist die Kunst der Verknappung und Verdichtung. Marcus Roloff nennt sie die „Extremform von Stil“.
Ihren ersten Auftritt haben die Worte bei ihm oft auf einem Blatt Papier wie diesem: Tiefe Knickfalten, abgestoßene Ecken signalisieren, dass es Roloff schon länger begleitet. Im September hat er es auf dem Heimweg von einer Lesung erstmals herausgekramt und eine Zeile notiert, die in seinem Kopf kreiste. Dann verschwand es wieder in der Tasche. In den folgenden Wochen aber holte er es immer wieder heraus, schrieb, mal in Blau, mal in Schwarz, Gedanken auf. Im November, Roloff saß in der U-Bahn, plötzlich erste Zeilen für ein Frankfurt-Gedicht. frankfurt mein teil / hausbesetzer als schlipse / in den auslagen schnee / katharina die kirche / und naspa und vorplatz ... Einige Tage später tippte er sie zu Hause vom Blatt ab, verschob hier ein Wort, schmiss ein anderes hinaus, ergänzte und verwarf. Ob es nun fertig ist? Roloff schüttelt den Kopf. Später wird er sagen: „Gedichte müssen abhängen.“
Fast sein halbes Leben lang schreibt der 41-Jährige nun Kurzprosa und Gedichte. In der Lyrik-Szene haben seine Arbeiten Gewicht. Roloff betreibt das Schreiben mit großem Ernst, aber keineswegs weltabgewandt und eingekapselt. Stattdessen: Gut vernetzt und interessiert am disziplinären und sozialen Austausch. Hochkulturell gebildet und subkulturell unterwegs. Stilbewusst nicht nur in der Sprache, sondern auch bei den Turnschuhen an den Füßen. Celan-Lektüre neben Facebook-Profil. Und jederzeit bereit, sich auch ungewöhnlichen Lesungsformaten zu stellen. Im Sommer etwa hat er bei einem Autoren-Speed-Dating im Frankfurter Garten vor einem Gewächshaus sitzend aus seinen Werken gelesen und dazwischen nett geplaudert.
Der Weg Roloffs zur Lyrik beginnt verzögert. Zwar wächst er in Neustrelitz im weiten Mecklenburger Flachland – die Mutter Bibliothekarin, der Vater Bibliothekar – mit einem prachtvollen Bestand an Büchern auf. Doch als er Mitte der 1980er-Jahre in das Alter kommt, in dem die Bücher auch für ihn bedeutsam werden könnten, verschwinden sie nach und nach. Seine Eltern haben einen Ausreiseantrag gestellt und weil niemand sagen kann, wann dieser gestattet wird (nie, in einem Jahr, nächste Woche?) verkaufen sie ihr Hab und Gut – und die Bibliothek. Fast fünf Jahre leben die Roloffs im Wartestand. „Wir hatten immer schon das Gefühl, woanders zu leben.“ Nicht in diesem „Staat aus Pappe“, umstellt von Konformisten und Lauschern. „Über Jahre ein Zaungastdasein zu führen, hat dieses Gefühl verstärkt – nicht hierher zu gehören, aber auch nicht woanders zu sein.“ Im Sommer 1989 ist es so weit, die Roloffs dürfen ausreisen, hinaus aus einer intakten DDR. Sie haben es geschafft. Vier Monate später fällt die Mauer.
Erst in Bremen entdeckt Roloff das Lesen, vor allem Kafka. Eines Tages fällt ihm ein Reclam-Band mit Berlin-Gedichten in die Hände – und es macht Klick: „Dass man das, was in ganzen Erzählungen abgehandelt wird, auch in ein paar Zeilen sagen kann, hat mich umgehauen.“ Während des Studiums in Berlin dockt er in der Lyriker-Bohème des Prenzlauer Bergs an, zunächst nur als Zuhörer und Bewunderer. Roloff selbst versucht es mit Prosa – und scheitert. „Ich konnte nicht realistisch erzählen. Alles Narrative war bei mir einfach nur unlesbar.“ Die Lyrik aber bietet Platz, fürs Ringen um jedes Wort, für die Suche nach einem eigenen Stil. 1997 erscheint mit „Herbstkläger“ sein erster Gedichtband.
Inzwischen sind mehrere Veröffentlichungen hinzugekommen. Zum Leben aber reicht das nicht. Muss es auch nicht. „Ich habe das Schreiben immer vom Geldverdienen getrennt.“ Also geht er einem bürgerlichen Beruf nach, als Erzieher in einem Kindergarten im Frankfurter Süden, während seine Frau als Rechtsanwältin beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels arbeitet. Er schreibt in den Zwischenräumen, am Vormittag, nachts, aber auch unterwegs. „Ein Stift muss immer zur Hand sein.“ Man weiß ja nicht, wann eine Zeile in den Kopf weht. Nur darauf zu warten, gehe allerdings auch nicht. „Um Einfälle zu ködern, muss man einfach los- und dann weiterschreiben.“
Es ist eine harte und einsame Arbeit. Doch Roloff will es so. Warum? „Es ist meine Art, mich mit der Welt auseinanderzusetzen: Ich will Dinge zum Sprechen bringen, die selbst keine Sprache haben, jedenfalls keine, die ich verstehe.“ Das rein artifizielle Wortspiel reizt ihn nicht, er möchte, „das, was ist, erkunden“. Oder so: „Jedes Gedicht sollte Spuren von Realität enthalten“, sagt er und lacht, weil er weiß, dass das gut, aber auch ein bisschen lustig klingt. Im Laufe der Zeit haben sich die Themen seiner Gedichte verschoben. Anfangs stöberte er viel seiner Herkunft im Osten hinterher, Orten und Erinnerungen, Neustrelitz, Siedenbrünzow, Vanselow. Doch das scheint durchgearbeitet. Heute geht es oft um andere Künste – oder ganz Banales. „Das Erzählte muss nicht besonders sein, aber die Sprache muss es.“
Der Stil Roloffs? Da ist die durchgehende Kleinschreibung und sind präzis-eigenwillige Bilder (das weder-noch-licht morgens um sechs) und Wortmassive (kartenhausscheindachschräge). Da ist der erkundende Blick nach außen eines extrem zurückgenommenen Ichs. Da sind die faktisch-nüchternen Koordinaten – Ortsnamen, Pegelstände, Uhrzeiten, Längenmaße –, mit denen er seine Zeilen in die Welt einharkt. Und da ist sein Umgang mit Rhythmus. Oft schneidet das Zeilenende wie ein Fallbeil ein Bild oder den Fluss der Worte entzwei. „Ja, manchmal hacke ich die Worte klein, bis nur noch ein Scherbenhaufen übrig bleibt.“ Damit aber werden aus einem Bild und einer Bedeutung mehrere mögliche – und der Leser ist gefordert, sich in dieser Vieldeutigkeit umzuschauen. „Ich möchte das eigene Sprechen so weit treiben, dass es verstehbar wird, aber auch rätselhaft bleibt. Präzise und ungefähr zugleich.“ Nie hingegen sind seine Gedicht blumig oder erbaulich. „In dieser Welt wäre es für mich unsinnig, schöne Gedichte schreiben zu wollen.“ Den gewaltsamen Tod einer Studentin im Kopf, hat er an sein Frankfurt-Gedicht noch drei Zeilen angefügt: ein nächtlicher parkplatz / pro bild vier sekunden / ein viertel tod.
von Christian Sälzer (16.12.2014)