Mut zur großen Geste
Kathrin Enders ist nicht nur Schauspielerin, sondern auch Dolmetscherin. Am liebsten übersetzt sie Literatur. Und das ist in Gebärdensprache gar nicht so einfach.
Kathrin Enders liebt die Bühne. Die Figuren, die Geschichten, die Sprache, die Darstellung. Es hat sie noch nie gestört, dass Menschen ihr zuschauen beim Lachen, Weinen oder Schreien und jede ihrer Bewegungen verfolgen. Das ist nicht anders an diesem Abend im Literaturhaus, wo Enders auf dem Podium sitzt. Gut ausgeleuchtet, aber auf einem Stuhl am Rande, in respektvollem Abstand zur lesenden Autorin. Eine Hauptrolle hat sie für manche im Publikum dennoch: als Gebärdensprachdolmetscherin.
Kathrin Enders übersetzt für die gehörlosen Gäste eine Geschichte über die Liebe. Sie tut das mit den Händen, ihrer Mimik, dem ganzen Körper. Der Blick weitet sich, der Mund öffnet sich zu einem Strahlen. Die schmalen Hände beschreiben Linien und Formen, gut sichtbar vor dem schwarzen Pullover, mit Bedacht hat sie ihn ausgewählt. Die langen blonden Haare sind zum Zopf gebunden, freier Blick auf das Minenspiel. Die Freude weicht Erstaunen, Enders zieht die Augenbrauen zusammen, die Mundwinkel nach unten. Sie richtet sich auf, streckt die Arme in die Höhe, die Fäuste bleiben in der Luft hängen. Verharren. Dann wandert der rechte Zeigefinger zum Kinn, sie schlägt die Lider nieder.
Auch das hörende Publikum versteht: Hier geht es um Momente von Glück, Zweifel, Streit. Und nicht zu vergessen: um einen Hund, der fast an einem Käse-Brötchen erstickt. Enders umgreift mit beiden Händen ihren Hals, hält den Kopf schief, streckt die Zunge raus und rollt mit den Augen. Es ist ein Vergnügen, sie zu beobachten. Und man merkt: Sie selbst hat Spaß am Gebärden. Am Spielen.
Kathrin Enders ist Schauspielerin, eigentlich. Ausbildung in Burghausen, mehrere Jahre an den Städtischen Bühnen in Münster, Engagements an anderen Theatern und in Fernsehproduktionen. Trotzdem war sie immer auf der Suche nach einem zweiten Standbein. Nur: Was reicht an die Schauspielerei heran? Enders war drauf und dran, als Stewardess anzuheuern. Immerhin: Andere Länder sehen, andere Sprachen sprechen, das ist nicht komplett langweilig. Doch durchkreuzte Mutter Courage diese Pläne. Enders bekam in dem Stück die Rolle der „stummen Kattrin“, die sich mit ihrer Mutter über Gebärden verständigt. „Aber ich wollte nicht einfach wild herumfuchteln. Also habe ich mir eine Gebärdensprachdolmetscherin gesucht, um mit ihr ein paar Sätze einzuüben.“ Es fiel ihr leicht, sie wurde neugierig. Sie erfuhr, dass das ein Beruf ist: Gebärdensprachdolmetscher. Dass Dolmetscher gefragt sind. Und dass man mit dieser Arbeit Geld verdienen kann!
Rund drei Jahre später legte Kathrin Enders die Prüfung zur staatlich geprüften Gebärdensprachdolmetscherin ab. Viele Kurse hatte sie bis dahin absolviert und bei einigen erfahrenen Kolleginnen und Kollegen hospitiert: Sie begleitete sie und deren gehörlose „Kunden“ zu Ärzten, auf Ämter und an die Uni, war bei Team-Besprechungen dabei.
„In dieser Zeit habe ich nicht nur die Deutsche Gebärdensprache gelernt, sondern auch eine andere Welt kennen gelernt“, sagt Kathrin Enders. Wegen der Sprachbarriere bleiben gehörlose Menschen oft unter sich. Zwar können manche von ihnen durchaus etwas von den Lippen lesen (wenn es um ein bekanntes Thema geht) – doch gibt es kaum Hörende, die die Gebärdensprache beherrschen. In Frankfurt ist die Stiftung für Gehörlose und Schwerhörige in der Rothschild-Allee ein wichtiger Treffpunkt für die Gemeinschaft (dort kann man übrigens auch DGS-Kurse belegen, und die Gastronomie steht auch Hörenden offen). Durch die Ausbildung und den Kontakt mit Gehörlosen hat Enders viel über die Geschichte der Gebärdensprache erfahren, (die bis in die 70-er Jahre selbst an Förderschulen unerwünscht war, weil Kinder die Lautsprache lernen sollten) und kulturelle Besonderheiten wie die Gebärdenpoesie und Gebärdenchöre entdeckt.
Anfangs sprang Kathrin Enders gelegentlich für Kollegen ein, nach und nach baute sie sich einen eigenen Kundenstamm auf. Für ein Dutzend Student/innen, Schüler/innen und Berufstätige in und um Frankfurt dolmetscht sie regelmäßig – und hat für die Schauspielerei aktuell kaum noch Zeit. „Ich vermisse es barbarisch“, sagt sie und reißt ihre großen braunen Augen auf.
Umso glücklicher war sie, als ein Dolmetscher-Kollege ihr anbot, die Termine im Literaturhaus zu übernehmen. Nichts lieber als das! „Betriebsversammlungen macht niemand von uns besonders gerne, ganz ehrlich. Aber Literatur ist mir nahe. Und literarische Texte zu dolmetschen, ist eine echte Herausforderung“, so Enders. Weil es bei Büchern um mehr geht als um Personen, die etwas tun oder sagen. Weil sie auch Gedanken, Gefühle und Atmosphäre transportieren.
Die Gebärdensprache hat ihre eigene Grammatik. Sie kennt beispielsweise keine Konjugation oder Deklination; die Sätze sind kurz, auf Präpositionen wird weitgehend verzichtet. Die Schrift- bzw. Lautsprache lässt sich nicht Wort für Wort in Gebärdensprache übersetzen; die Inhalte eines Textes werden in Bildern ausgedrückt. Manchmal reicht eine Gebärde für einen ganzen Satz. Manchmal muss ein Wort buchstabiert werden, beispielweise Personennamen. Und manchmal muss die Dolmetscherin ausführlicher werden, dann muss sie Begriffe oder Sachverhalte umschreiben, indem sie „Bilder aufbaut“.
Selten bleibt Kathrin Enders Zeit, sich vor einer Lesung mit dem Buch vertraut zu machen. Also informiert sie sich, um was es darin geht – und verlässt sich für den Live-Moment auf ihre Allgemeinbildung und ihr Wissen um die Gehörlosen-Kultur. So sind viele der Metaphern und Sprichwörter, die Hörende selbstverständlich verwenden, gehörlosen Menschen oft fremd. Die Redewendung „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“ umschreibt Enders deshalb mit „Erstmal abwarten – dann jubeln!“ Oder der Text, in dem ein Vergleich mit einem M.C. Escher-Labyrinth gezogen wurde. Weil Enders nicht davon ausgehen konnte, dass das gehörlose Publikum Escher kennt, gebärdete sie nicht einfach nur den Namen des Künstlers, sondern beschrieb ein für diesen typisches Bild, auf dem Treppenstufen über- und untereinander laufen.
Die Autorinnen und Autoren, solche Hürden nichtahnend, lesen natürlich trotzdem weiter, immer weiter. Geht der Dolmetscherin da nicht manchmal etwas verloren? Nein, sagt Enders: „Ich höre mit einem Ohr hin und speichere das Gehörte im Ultrakurzzeitgedächtnis. Das ist eine Frage der Übung.“ Schwierige Textstelle beim Dolmetschen auszusparen, käme für sie jedenfalls nicht infrage: „Ich habe den Anspruch, alles zu übersetzen. Es steht mir schließlich nicht zu, zu entscheiden, was relevant ist oder nicht. Das muss der gehörlose Mensch selbst tun.“
Rund vier Lesungen pro Halbjahr begleitet Kathrin Enders im Literaturhaus als Gebärdensprachdolmetscherin, in der ersten Reihe sitzen dann immer einige gehörlose Literaturfreunde. Es sind noch immer sehr wenige, auch weil für viele Gehörlose Bücher bzw. Lesen nicht zum Alltag gehören. Sie tun sich häufig schwer mit der deutschen Schriftsprache – eben aufgrund der anderen Grammatik und eines Wortschatzes, der so anders ist als der der Gebärdensprache.
Literatur in „Einfacher Sprache“, wie das Literaturhaus Frankfurt sie seit einiger Zeit mit Autorenstipendien fördert und durch Lesungen bekannt macht, ist deshalb nicht nur für Menschen mit Lernschwierigkeiten und Nicht-Muttersprachler ein Gewinn, sondern auch für gehörlose Menschen. „Und mir machen sie die Arbeit leichter“, erklärt Enders: „Bei Texten in einfacher Sprache steht die Handlung im Vordergrund. Die wiederum lässt sich leichter in Bildern ausdrücken als theoretische Reflektionen über das Leben.“
Was nicht heißt, dass Kathrin Enders diffizile Jobs scheut. Nur zu gerne lotet sie die Möglichkeiten der Gebärdensprache aus und schlägt so die Brücke zwischen ihren beiden Professionen. Wie in der Performance „Nicht Hier“ im Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen, wo sie kantige Gebärden passend zur Percussion einsetzte. Mit Gebärden zu Musikvideos. In „Flirt“, wo Gehörlose und Hörende gemeinsam spielen (und am 5. Mai im Mollerhaus in Darmstadt zu sehen ist). Oder bei der Gebärdenpoesie für hr2 Kultur, wo sie und eine Dolmetscher-Kollegin Gedichte von Goethe, Fontane und Heine gebärden. Die Poesie ergibt sich aus der Art und Weise, wie die beiden Frauen dies tun. Jede hat ihren eigenen Stil, eine eigene Intonation. Kathrin Enders ist wieder in Bewegung, ausschweifend in den Gesten, expressiv in der Mimik, mal schnell, mal verzögert. Und mit viel Mut zum Ausdruck.
von Eva Keller (11.02.2019)