Die Treppe zum Krimi
Jutta Wilkesmann ist keine Buchhändlerin, aber eine Buchbegeisterte. Ohne Vorkenntnisse und buchhändlerische Erfahrungen hat sie vor gut 25 Jahren die erste Krimibuchhandlung auf dem europäischen Kontinent, „Die Wendeltreppe“, eröffnet. Wie es dazu kam, liest sich selbst fast wie ein Roman...
Ein Vormittag in Deutschlands erster Krimibuchhandlung: Ich treffe Jutta Wilkesmann zu Kaffee und Gespräch. Zwischendurch kommen immer wieder Kunden, von denen die meisten wie gute Freunde wirken, die im heimischen Wohnzimmer in den deckenhohen Regalen nach dem passenden Krimi stöbern und sehr persönlich beraten werden. Ein Zirkusdirektor spaziert mit seinem Affen in den Laden, der Mann bekommt Geld, der Affe einen Weihnachtskeks, Bücherlieferanten laden Kisten ab, Stammkunden holen ihre Bestellungen ab.
Dazwischen erzählt Wilkesmann ihr Leben: Ihre Kindheit verbrachte sie in Unterfranken, in „Superfreiheit“, wie sie es nennt – à la Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Gelesen habe sie aber schon immer viel und das Gelesene mit ihrer Fantasie verwoben. Mit zwölf kam sie nach Frankfurt, in die „graue, spießige Stadt“, die ihr wie ein Gefängnis schien. Nach der Schule dann „der nächste Knast“: eine Ausbildung zum Industriekaufmann (so hieß das damals noch) bei einer amerikanischen Firma. Über eine Au-Pair-Vermittlungsstelle gelang ihr die „Flucht“ aus dem verhassten Leben: 1967 bekam sie eine Stelle und ging nach England. Dort lebte sie ein halbes Jahr bei einer englischen Familie und anschließend in ihrer ersten WG. Sie blieb zwei Jahre in Bournemouth und London, arbeitete tagsüber in einem Hotel und ging abends zur Schule. In ihrer ersten Woche in England entdeckte sie in einem Antiquariat den „Steppenwolf“ von Hermann Hesse. Beglückt, ein deutsches Buch gefunden zu haben, kaufte sie es und stellte zu Hause fest, dass es eine englische Übersetzung war. Fortan las sie nur noch englischsprachige Bücher.
In Paris, einer ihrer weiteren zahlreichen Stationen, lebte Wilkesmann mit einem Freund zusammen. Dessen Mutter hatte eine Buchhandlung auf Langeoog, der Vater eine Buchhandlung in Emden. Im Zimmer in Paris stapelten sich die Bücher an den Wänden entlang bis auf eine Höhe von 1,50 Meter und es kamen stets neue hinzu. Auf diese Weise las sie sich durch alle literarischen Neuerscheinungen: „Es war paradiesisch“. Auch in der Buchhandlung „Shakespeare & Company“ am linken Seine-Ufer war sie gern zu Gast: „Wenn man den Besitzer, einen bärtigen und sehr freundlichen Mann, besser kennenlernte, durfte man in den ersten Stock und konnte dort auf unglaublich durchgesessenen Sofas Tee trinken und lesen. Zur Not konnte man dort auch übernachten.“
Immer wieder aber kam die Nomadin nach Frankfurt zurück, wo sie anfing, für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels zu arbeiten; zunächst für ein paar Monate in der Presseabteilung und zuständig für eine Wanderausstellung, später immer wieder zur Buchmesse. Dort traf sie auf begeisterte Buchmenschen. Wie viele Buchmenschen verstanden sie es, wunderbare Feste zu feiern: „Der Rotwein floss in Strömen und die Luft war zum Schneiden dick vom Zigarettenrauch.“ Unvergessen aus dieser Gruppe sind ihr zwei literarisch hochgebildete Frauen, die sich als begeisterte Krimileserinnen „outeten“. Zur damaligen Zeit waren Krimis noch als „Schundliteratur“ am Bahnhof und in den Rumpelecken der Buchläden zu finden. Empört berichtet Wilkesmann vom Krimiregal in der Stadtbücherei, in dem die Krimis unsortiert und doppelreihig standen, im Regal nebenan Konsalik, fein säuberlich sortiert.
An ihren ersten Krimi erinnert sie sich noch genau: „Er war von Tony Hillerman.“ Schnell merkt sie, dass es im Krimi „nicht nur um Leichen geht, sondern um ganze Welten, die man nicht kennt, und um Gesellschaft“. Der Krimi als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen und als Spiegel der Demokratie: „Kein Genre greift die Veränderungen in der Gesellschaft so schnell auf wie der Kriminalroman.“
Im Frühjahr 1988 musste Wilkesmann ins Krankenhaus, las dort einen Krimi von Martha Grimes und einen Artikel über Antiquariate und wusste auf einmal genau, was sie mit ihrem Leben machen wollte: eine Krimibuchhandlung eröffnen. Der Plan reifte und sie begann, mit Verlegern zu sprechen und sich leerstehende Läden anzusehen. Die Vermieter waren von einem Buchladen stets sehr angetan, wenn sie jedoch hörten, dass es um Krimis ging, machten sie einen Rückzieher. Endlich fand sich etwas Passendes in der Brückenstraße 54: ein schmaler Laden mit einer Jugendstilwendeltreppe in den ersten Stock. Mit von der Partie Hilde Gansmüller, studierte Psychologin.
Am 17. Februar 1989 eröffneten die beiden „Die Wendeltreppe“, die erste Krimibuchhandlung auf dem europäischen Kontinent – einzig in London gab es den Krimibuchladen „Murder one“, der heute leider nur noch als Online-Buchhandlung existiert. Den Namen haben sie nicht etwa der Jugendstiltreppe entlehnt, sondern dem gleichnamigen Film, der wiederum auf dem Roman „Die Wendeltreppe“ („The Spiral Staircase“) von Ethel Lina White beruht. Natürlich ein Krimi.
Die beiden Wendeltreppen-Betreiberinnen hatten bis dahin keine Ahnung und keinerlei Vorkenntnisse in der Buchhändlerbranche und durften ihren Laden anfangs daher nur als „Buchverkaufsstelle“ beim Börsenverein anmelden. Was sie wissen mussten, lernten sie von Tag zu Tag. Viel Zeit hatten sie dafür aber nicht, denn die Ladeneröffnung schlug ein wie eine Bombe. Die Presse fiel ein und plötzlich fanden sich die beiden in Interviews, hinter Mikrofonen und vor Kameras wieder. Von 1990 bis 1992 brachten sie das „Kriminaljournal“ heraus, eine Zeitschrift mit Rezensionen und Neuigkeiten aus der Welt der Kriminalliteratur, selbstverständlich auch ohne verlegerische Vorkenntnisse.
Die Spezialisierung auf Kriminalliteratur war den beiden wichtig, ebenso ein gut sortiertes Antiquariat, aber „da wir Büchern nicht widerstehen können, hatten wir von Anfang an auch ein kleines Sortiment an skurrilen, ausgefallenen, interessanten und vergessenen oder einfach schönen Büchern, die unsere Aufmerksamkeit erregt hatten“. Wie im Laden, so auch zu Hause: Die Wohnung wird hauptsächlich von Büchern bewohnt, allerdings weniger von Kriminalliteratur, dafür finden sich ausgewählte Bilderbücher, eine große Hans-Christian-Andersen-Sammlung, Kochbücher, Judaica, ein großes Regal mit Lyrik und all die Romane, „die uns unser ganzes Leben begleitet haben“.
1993 sind sie dann mit der „Wendeltreppe“ ein paar Häuser weiter in ihr heutiges Domizil gezogen. Dort kann man noch immer an jedem ersten Donnerstag im Monat bei einem Glas Wein auf der Couch Platz nehmen und sich in die Krimiwelt einführen lassen: Jutta Wilkesmann und Hilde Gansmüller stellen mörderische Neuerscheinungen vor.
Einen eigenen Krimi möchte sie nicht schreiben, sagt Jutta Wilkesmann noch beim Abschied. Aber bei diesem Lebenslauf kann man ja nie wissen.
von Silke Hartmann (06.01.2015)