Wenn das Ressentiment sich traut
In dem Roman „Glantz und Gloria“ gibt es keinen Flüchtling und keine Pegida. Trotzdem war und ist es so etwas wie das Buch zur Stunde. Eine Art Porträt des Übersetzers und Schriftstellers Henning Ahrens.
Das wird kein Porträt. Weil: besondere Umstände. Das liegt, dies sei betont, weder an Henning Ahrens, der freimütig Auskunft über sich und sein Leben gegeben hat, noch daran, dass da nicht genug zu erzählen wäre, aus dem sich ein Porträt stricken ließe. Vom Sohn eines Landwirts in Klein-Ilsede, der eine ellenlange Ahnenreihe niedersächsischer Bauern jäh beendete, indem er in Philosophie promovierte statt Gerste anzubauen oder Mastbullen zu züchten. Oder davon, dass er seit nunmehr zwanzig Jahren als Übersetzer tätig ist, Werke von Richard Powers, Hanif Kureishi oder Jonathan Safran Foer ins Deutsche gebracht hat und momentan alle Sherlock-Holmes-Bände neu übersetzt. Allein das wirft Fragen auf: Wie modernisiert man Holmes? Und warum werden Übersetzungen überhaupt zeitgemäß gemacht, während das Original sakrosankt ist?
Man könnte auch von Ahrens Wohnung in Bockenheim erzählen, in der er Wand an Wand mit der Titanic-Redaktion lebt. Schwere alte Möbel, Tierschädel allerorten, ein Dragonersäbel. Spärlich beleuchtet, duster fast, aber äußerst ordentlich. Anlässlich dessen ließe sich darüber sinnieren, dass Disziplin womöglich nötig ist, wenn man sich fürs tägliche Brot Wort für Wort durch die Werke anderer Leute ackert. Oder auch, dass dies vermutlich eine gute Übung ist, um nach getaner Übersetzung die eigenen Geschichten zu erspinnen und diese in Worte zu packen.
Unter Umständen könnte man auch etwas daraus machen, dass Ahrens früher viel gezeichnet hat, bevor er eigene Lyrikbände und Romane geschrieben hat. Man könnte auf die Phase eingehen, als das Leben noch vertrackter war als ohnehin, sich sein Roman „Tiertage“ nicht verkaufte wie erhofft und ihm Zweifel kamen, was das eigentlich soll, dieses jahrelange einsame Brüten über Erzählsträngen, Figuren und Orten, das letztlich weder Ruhm noch Tantiemen einbringt. Aus dieser Zeit stammt auch die Anekdote (immer gut), dass er unmittelbar vor Beginn einer Lesung, zu der lediglich zwei Gäste erschienen waren, einfach in sein Auto gestiegen und ausgebüxt ist. Heute, das wäre dann hinzuzufügen, ist ihm die Flucht von damals peinlich und auch die Krise überwunden.
Auf all das könnte man ausführlich eingehen. Nur fehlt der Platz. Denn hier und jetzt soll von seinem im Herbst erschienenen Roman „Glantz und Gloria“ erzählt werden. Das haben zwar schon andere getan und in Bremen haben sie Ahrens gar einen Literaturpreis verliehen. Aber man kann und sollte und muss es vielleicht noch einmal tun. Weil man Derartiges nicht oft zu lesen bekommt.
Das Dorf Glantz liegt im Düster, einem fiktiven Mittelgebirge, in dem die „Fichten tanzen und Wiesen in die Wälder streunen“ –„Kluft und Klamm, das ganze Programm“. Ein lebenskrisengeschüttelter Mittvierziger, Rock Oldekop, kehrt zurück an den Ort seiner Kindheit und des frühen Todes seiner Eltern. Heimatsuche, so etwas. In Glantz, findet er Vertraute, den verschrobenen Tierschützer Landauer, den 92-jährigen Kunstliebhaber Koraschke und Gloria, ebenfalls frisch im Ort eingetroffen. Mit Gloria ist es schwierig, weil sie, kaum aufgetaucht, wieder verschwindet oder entführt wurde, jedenfalls weg ist oder niemals da war, so klar ist das nicht. Oldekops Sehnsucht aber ist geweckt. Später ist dann Helene da, aber vielleicht ist Helene auch Gloria. Diese vier (oder fünf) müssen sich herumschlagen mit der Ablehnung, Boshaftigkeit und Feindseligkeit der Glantzer, ein grölender und fackelbewehrter Blut-und-Boden-Mob, der darauf besteht, dass weiß weiß bleibt und schwarz schwarz. Wo einst Hexen und später Bücher brannten, droht jede Nacht der Angriff.
Es ist eine Zombiewelt, mystisch und fantastisch zugleich, in der sich alles ständig verschiebt, ineinander verheddert und auflöst, „ein Traum, der sich in der Wirklichkeit ausbreitete wie Tinte in Wasser“. Ein alberner Albtraum, halb Märchenwelt, halb „Dawn of the Dead“. Als hätte man Arno Schmidt und Quentin Tarantino mit allerlei Drogen in ein Landschaftsgemälde von Ernst Ludwig Kirchner gesperrt und gesagt: „Nun macht mal!“ Das mag anstrengend klingen, ist es aber nicht. Und „egal wie real“ – am Ende verglüht der Düster in einem Inferno und eine Frau (Gloria?) sitzt auf Rock Oldekops Fahrradlenker und sagt „Ich bin der Beginn eines Romans, der auf einer wahren Begebenheit beruht“.
An dieser Stelle muss doch noch eine Passage Porträt herbei. Henning Ahrens stammt nämlich nicht nur vom Land, sondern ist mit Anfang 40 nach einigen Jahren in Göttingen und Kiel wieder zurückgekehrt ins Nachbardorf von Klein-Ilsede in der Nähe des Harzgebirges. Zunächst lebt er mit Frau und Kindern im Bauernhof der Großeltern, dann alleine. Ein Mann, der in der niedersächsischen Steppe den ganzen Tag zu Hause verbringt, weder Bullen züchtet noch bei VW arbeitet, sondern obskuren Tätigkeiten nachgeht, nämlich Bücher schreibt – das ist suspekt. Da half es auch nicht, dass Ahrens selbst Kind dieser Scholle ist. Als sich eine Dorfbewohnerin in einer seiner Romanfiguren wiederzuerkennen meint und einen Anwalt einschaltet, ist es mit Anstand und Zurückhaltung vorbei. Ahrens wird nicht mehr nur beäugt, sondern beschimpft und angepöbelt. Mülltonnen werden ausgeleert, das Haus beschmiert. Sechs Jahre lebt er noch so. Dann zieht er, zwei Jahre ist es her, nach Frankfurt und beginnt zu schreiben.
Nun könnte man meinen, dass Ahrens mit „Glantz und Gloria“ eine/seine Abrechnung mit der Provinz und ihren Dummbatzen geschrieben hat. Doch das, was sich allnächtlich in Glantz erhebt und hetzt, ist nicht einfach „das Land“, es ist, böser noch, das Ressentiment. Durch all den surrealen Budenzauber hindurch legt er eine Fratze frei, dass einem der Atem stockt: den Argwohn gegenüber dem Anderen und Fremden – ob er nun in einem niedersächsischen Kaff Bücher schreibt, militanter Tierschützer in Glantz ist oder ... tja, von woanders kommt. Und deshalb ist Glantz und Gloria so etwas wie das Buch zum Ausnahmezustand. Es befand sich noch im Lektorat, als die Glantzer Zombies sich in Freital aus der Dunkelheit trauten. Dann krauchten sie durch Dresden, längst johlen sie in Wildbad Kreuth vom Podium und geistern durch jede Talkrunde. Doch Glantz und Gloria steht auch für die Not- bzw. Gegenwehr, jeder mit seinen Mitteln. Landauer mit Stoizismus und Jagdflinte, der alte Koraschke mit Lebensweisheit und Säbel, Oldekop mit der Verzweiflung des Verliebten – und Ahrens mit der Wucht und Kunst der Worte: Jeder Satz ein Treffer. Es ist ein überzogenes, letztlich heilloses Unterfangen, das gut tut – wohl wissend, dass auch in Glantz nichts gut geworden ist.
Ahrens gibt sich übrigens selbst ein bisschen Mitschuld an dem, was ihm auf dem Land passiert ist. Vielleicht hätte er sich ein bisschen mehr integrieren sollen, sagt er heute. Ob es etwas gebracht hätte? In seinem Roman lässt er den durch Verleumdungen gebrandmarkten Koraschke sagen: „Einmal Fremder, immer Fremder. Toleranz ist nur Tünche. Warum also assimilieren?“
von Christian Sälzer (26.01.2016)