Eine Lesung ist kein protestantischer Verzichtsakt
Hauke Hückstädt wurde als Jugendlicher in der DDR als Ruder-Medaillenhoffnung aufgebaut. Doch nachdem seine Eltern einen Ausreiseantrag gestellt hatten, war seine Sportkarriere zu Ende. Im Westen studierte der Künstlersohn Germanistik und war dann Autor, Kritiker und Veranstalter. Seit 2010 leitet er erfolgreich das Literaturhaus Frankfurt.
Was kann man sich eigentlich genau unter einem Literaturhaus vorstellen?
Ein Literaturhaus besorgt die Vermittlung von Literatur und fördert den Diskurs darüber. Dabei sind Literaturhäuser tatsächlich eine deutsche Besonderheit. Die erste Einrichtung dieser Art entstand 1986 in Berlin, dann kamen Hamburg, München und Frankfurt dazu. Inzwischen gibt es sie auch in vielen anderen Städten – auch außerhalb Deutschlands.
Und was machen Sie hier in Frankfurt konkret?
Das Literaturhaus Frankfurt, hinter dem ein unabhängiger Verein steht, veranstaltet Lesungen und Diskussionen, organisiert Kinder- und Jugendprogramme, Film- und Hörspielabende, das Kolleg Schöne Aussicht für Lehrer, Workshops, einen Lesezirkel, Literaturfeste, Symposien, Vorträge und beheimatet einen Raum zur Erinnerung an den Kabarettisten Matthias Beltz.
Das neue Literaturhaus wurde 2005 in die damals rekonstruierte alte Stadtbibliothek verlegt, nachdem es 15 Jahre in der Villa Hoffmann in der Bockenheimer Landstraße untergebracht war. 2010 haben Sie die Leitung von Maria Gazzetti übernommen. Welcher Aufgabe standen Sie damals gegenüber?
Die Erwartungen waren gigantisch. Vor allem auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es ging darum, das Budget zu erweitern, die Besucherzahlen zu erhöhen, das Publikum zu verjüngen, die Publikumszusammensetzung unberechenbarer zu machen und ein gesundes Verhältnis zwischen Veranstaltung, Vermietung, Ausstellung und Dingen wie etwa der Schreibwerkstatt für Schüler und Jugendliche zu finden.
Was waren damals und sind heute die großen Herausforderungen?
Schwung hineinbringen, ohne groß ausholen zu können. Es gilt, in künftige Besucher und künftige Ansprüche zu investieren, ohne das Bestehende zu verlieren. Dazu haben wir den Blick auf die Literatur und das Buchgeschehen deutlich geweitet: Alle egalitär in einem Programm, unter einem Dach. Debütanten wie Stars, Edel-Trash neben Science-Fiction, Jacques Palminger neben Reinhard Jirgl, der Deutsche Buchpreis und der Hotlist-Preis der Independents, Lyrik und Roman, Drehbuchautoren und Schriftstellerdarsteller, Hütten und Paläste, Tanzpartys und Ponto-Preis, Brot und Wein.
Wie würden Sie Ihr Konzept beschreiben?
Das ganze Team steht für das Haus ein, mit Herz, mit Offenheit und Höflichkeit, in einer sehr persönlichen Art. Und wir versuchen, gute Gastgeber zu sein. Dazu gehört aber auch, dass unsere Räumlichkeiten eine Atmosphäre bieten und mit Technik ausgestattet sind, dass ganz besondere Live-Erlebnisse möglich werden. Insgesamt ist unser Ziel, zu einer Marke zu werden, der man vertraut, etwa wie der Volksbühne in Berlin oder den Kammerspielen in München.
Das kostet aber auch Geld. Wie finanzieren Sie sich denn?
Seit 2010 ist unser Jahresetat von etwa 550.000 auf nunmehr 850.000 Euro im Jahr angestiegen. Etwa 40 Prozent des Etats kommen von der Stadt, die verbleibenden 60 Prozent müssen wir Jahr für Jahr erbringen durch Stiftungszuschüsse, Eintrittsgelder, Vermietung unserer Räumlichkeiten und Spenden von Privatpersonen.
Und wie gut kommen Sie damit klar?
Nennen Sie mir eine kulturelle Einrichtung, die sich über die Finanzierung keine Gedanken machen muss. Aber wir drehen jeden Heller um, damit das Haus so produktiv wie möglich sein kann. Allerdings ist die Entwicklung so, dass in Frankfurt die Politik dem Kulturdezernat entsprechende Sparvorgaben gemacht hat. Und die Stadt wie teilweise auch die Stiftungen treten ja inzwischen immer öfter auch selbst als Veranstalter auf. Das ist zwar grundsätzlich positiv, aber die basale Versorgung für die Finanzierung der Vielfalt kulturellen Engagements wird dadurch nicht stabiler.
Was erwarten Stiftungen und Sponsoren, um sich zu engagieren?
Die stehen selbst unter Erfolgsdruck und Rechtfertigungszwang. Insofern konzentrieren sie sich immer mehr auf thematisch oder ideologisch zugespitzte Projekte, was aus meiner Sicht keine unbedingt gute Entwicklung darstellt. Deshalb lassen sich auch zeitlich begrenzte Festivals mit thematischer Fokussierung deutlich einfacher finanzieren und durchsetzen als eine Einrichtung mit einem breit angelegten Jahresprogramm und einem Konzept der nachhaltigen Grundversorgung.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Zielgruppen, also Ihre Besucher?
Über Zielgruppen gibt es die größten Missverständnisse und viel gut Gemeintes. Hier wird derzeit aus meiner Sicht eine Chimäre aufgebaut. Ein großes Thema sind ja gerade sogenannte bildungsferne Schichten, möglichst mit Migrationshintergrund – oder Jugendliche natürlich. Ein ehrenvoller Ansatz, doch leider weit von der Realität entfernt. Wie sollen denn kulturelle Einrichtungen, wie die gesamte Kulturbranche überhaupt, diese Gesellschaftsschichten in großer Zahl aktivieren, wenn sie voll und ganz damit beschäftigt sind, dass ihnen die bildungsnahen Schichten nicht wegbrechen?
Was würden Sie gerne finanzieren, wenn Sie sich etwas wünschen dürften?
Wir haben ja im Moment so gut wie kein Marketingbudget. Das geht eigentlich nicht, damit sind wir jetzt schon abgehängt. Eine Veranstaltungseinrichtung wie das Literaturhaus muss aktiv und auf Augenhöhe mit den großen Einrichtungen der anderen Sparten neue und vertraute Besuchergruppen ansprechen können. Hier werden wir in Zukunft etwas tun müssen. Was hingegen mehr ein Wunschtraum bleiben wird, ist, dass man jemanden für so etwas wie Veranstaltungsdramaturgie, für atmosphärisches Design engagieren würde. Also eine Fachkraft, die für jede Veranstaltung Licht, Ton, Bild, Musik und das kulinarische Drumherum aufeinander abstimmt. Nicht umsonst gibt es beim Theater Kostümschneider, Bühnenbildnerinnen, Tonmeister, Souffleusen und Beleuchter, die das Geschehen auf der Bühne entsprechend unterstützen.
Würde das aber nicht vom eigentlichen Inhalt, der Literatur, ablenken – Stichwort „Eventisierung“?
Ich würde es Stichwort „Qualitätssicherung“ nennen. Mir geht es darum, Inhalte so zu präsentieren, dass man sich voll und ganz darauf einlassen kann und nicht durch mangelnden Sauerstoff, knackende Lautsprecher und schlechte Sicht vom Bühnenprogramm abgelenkt wird. Die Lesung muss doch kein protestantischer Verzichtsakt sein.
Wodurch wird eine Veranstaltung für Sie zu etwas Besonderem?
Am spannendsten finde ich Veranstaltungen, die szenenübergreifend sind – die überraschen und zum Widerspruch anregen. Nur Erwartungen zu erfüllen und ganz bestimmte Sichtweisen zu bedienen, finde ich unergiebig. Toll fand ich etwa den Auftritt von Jacques Palminger vor Kurzem hier im Literaturhaus, mit einem gemischten Publikum. Und eine Woche später die wunderbare unbezwingbare Marlene Streeruwitz.
Was ist Ihre private Lieblingslektüre?
Lyrik steht immer noch ganz oben auf meiner Liste. Diese Verdichtung existenzieller Themen mit der Lässigkeit poetischer Wendungen ist uneinholbar.
von Ulrich Erler (22.07.2014)