Ein Raum, in dem sich Welten öffnen
Einst bei Eichborn, heute bei der Büchergilde Gutenberg: Die Buchgestalterin und Herstellerin Cosima Schneider sorgt dafür, dass aus Manuskripten außergewöhnliche Werke werden. Jetzt hat sie mit ihrem Mann das erste eigene Buch erstellt.
Sie möge doch bitte anhand eines Buches einen Einblick in ihre Arbeit geben. Ein einziges? Cosima Schneider schaut kurz verzweifelt, während sie den Blick über die Regalwände ihres Arbeitszimmers schweifen lässt. Wenige Minuten später türmt sich ein Stapel Bücher auf dem Schreibtisch. Ein gewöhnliches ist nicht darunter. Da liegt ein Band mit von drei Illustratoren bebilderten Kleist-Novellen, das in drei übereinanderliegende Buchschlaufen gehüllt ist. Da liegt der Folioband „Die Vögel Mitteleuropas“, in dem Originalaquarelle auf feinstem, fast durchscheinendem Papier gedruckt sind. „Die Zartheit erinnert an Gefieder“, erklärt sie. Da liegt das in zweifarbig schimmerndem Leinen gebundene Wortuniversum „Solus Locus“, in dem sich Typografie und Satz den üblichen Regeln entziehen. Da liegt noch mehr und könnte noch viel mehr liegen. Klar wird: Schneiders Aufgabe ist zu vielfältig, das Spektrum zu breit, als dass ein Buch die ganze Geschichte erzählen könnte. Und der Esprit, mit dem sie von Regal zu Regal eilt, von dem Werden der Bücher erzählt, über Leinen streicht und Papiersorten vorführt, macht noch etwas klar: Nicht oft trifft man einen Menschen, der so begeistert von dem eigenen Beruf ist.
„Ich bin ein haptischer Mensch“, beschreibt sie sich. „An Büchern mag ich, dass sie eine überschaubare Größe haben, sie sind greif- und anfassbar. Gleichzeitig ist ein Buch ein Raum, in dem ich mich bewegen kann und in dem sich Welten öffnen.“ Der Inhalt macht die Vorgaben, setzt Thema, Ton und Takt. Ihre Aufgabe ist es, ihm Form und Materialität zu geben. „Ich versuche, den Inhalt in der Gestaltung aufzunehmen und weiterzutragen, ohne ihn zu erdrücken.“ Und weil jeder Inhalt anders ist, komponiert sie für jedes Buch eine eigenständige und eigenwillige Lösung. Durch die Wahl der Materialien, die Form der Buchstaben und des Satzes, die Zugabe von Bildern, die Gestaltung des Covers und Veredelungen aller Art. Viele Teile, die ein Ganzes ergeben sollen. Es klingt nach einer komplexen Beziehungsarbeit, die gleichermaßen Sorgfalt und kreative Freiheit erfordert. Und Schneider ist in der glücklichen Lage, stets für Verlage gearbeitet zu haben, in denen diese Freiheit nicht nur gewährt, sondern gefordert wurde. Doch der Reihe nach. Denn alles hätte auch anders kommen können.
Als Jugendliche brauchte sie Zeit, um ihren Weg zu finden. Sie wechselte von Schule zu Schule, brach sie schließlich ganz ab, jobbte dies und das. Mit 20 lernte sie dann den Künstler Klaus Schneider kennen, der heute ihr Mann ist, und vieles wurde anders. Sie holte das Abitur nach und wurde an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach angenommen. „Irgendwann stellte ich fest, dass fast alles, was ich dort machte, in ein Buch mündete.“ Zur Passion Buch gesellte sich eine zweite: die für Gestaltung. Sie erzählt von einer Übung, die ihr Dozent Franz Mon an der HfG auftrug: Sie sollte ein Wort ausschneiden und auf einer leeren Seite platzieren, mal hier, mal da. Dann kam ein zweites Wort hinzu. „Es war fantastisch zu sehen, wie sich die Stimmung oder auch die Aura der Worte je nach Arrangement änderte.“
Vom Studium aus ging es direkt zum Eichborn Verlag, wo sie das Handwerk der Buchherstellung in seiner ganze Breite kennenlernte. Es lief gut, so gut, dass der Ritterschlag folgte: Von 2008 an durfte Schneider die gestalterisch von Buchkünstler Franz Greno geprägten und damals bei Eichborn erscheinenden Bände der Reihe Die Andere Bibliothek herstellen, jene bibliophilen Schmuckstücke, die von der ZEIT einst als „schönste der Welt“ gepriesen wurden. Rund 50 der monatlichen Ausgaben und Foliobände in hochwertiger Ausstattung gestaltete Schneider, jede und jeder ein neues Abenteuer. Doch dann wurde Eichborn verkauft und Die Andere Bibliothek siedelte nach Berlin um. Was macht man, wenn der Traumjob abhandenkommt? Schneider begann sich ein Standbein als freie Buchgestalterin und Herstellerin aufzubauen – und fand zudem ein zweites, abermals ein Traumjob. Tatsächlich suchte ausgerechnet jener Verlag eine Herstellungsleitung, der ebenfalls für höchste Ansprüche an Buchkunst und künstlerisch illustrierte Bücher steht: die Büchergilde Gutenberg. Und nicht nur das: Die traditionsreiche, aus der Gewerkschaftsbewegung stammende Büchergemeinschaft wollte zeitgemäßer und dynamischer werden. Eine Herausforderung, die passte.
Neben ihren freien Projekten betreut sie seitdem bei der Büchergilde in der Nähe des Baseler Platzes gemeinsam mit ihren Kollegen 80 bis 100 Titel pro Jahr, Eigenproduktionen und Lizenzausgaben. Anders als in anderen Häusern ist sie als Herstellungsleiterin hier schon in die Auswahl der Titel eingebunden und kümmert sich dann um das gesamte Werden eines Buches, von der Auswahl der Illustratoren bis zur Druckfreigabe. Vieles hat sie umgekrempelt. Sie hat die Produktion von China nach Deutschland zurückgeholt und die Gestaltung frischer und experimentierfreudiger gemacht. „Ich finde, das Buch muss wieder viel mehr dürfen“, formuliert sie ihren Anspruch. Um das zu ermöglichen, ist sie viel unterwegs. Auf Rundgängen an Hochschulen sucht sie nach neuen Illustratorentalenten, auf Möbelmessen spürt sie ungewöhnliche Materialien auf. Sie schaut sich bei Materialherstellern um, tauscht sich mit Bindereien aus, besucht Lithographen und tüftelt mit Druckereien an besonderen Lösungen. „Ich bin gerne auf der Suche und entdecke Neues.“
Aus genau dieser Neigung ist nun auch ihr erstes eigenes Buch geworden. Sie und ihr Mann hatten von einem eigenwilligen Sammler gehört, der in einem abgelegenen Tal im Piemont ein Museum der besonderen Art errichtet habe. Nachdem der erste Versuch, diesen verwunschenen Ort zu finden, gescheitert war, klappte es beim zweiten – eine Offenbarung. In fünf Jahrzehnten hat der Glockenreparateur und Umweltaktivist Pietro Benzi 2,7 Millionen Alltagsgegenstände gesammelt, von Hausrat bis zu religiösem Nippes, und auf Tausenden Quadratmetern in Scheunen und Schuppen ein einzigartiges Museum des Lebens geschaffen. „Ein zauberhaftes Wirrwarr, ein Lebenswerk gegen das Vergessen“, schwärmt Schneider. Damit dieses nicht selbst in Vergessenheit gerät, hat sie getan, was sie am besten kann: gemeinsam mit ihrem Mann ein Buch erstellt. Der Bildessayband „Shangri-La – Das Museum hinter der Brücke“ ist jetzt im modo Verlag erschienen. Auch dieses Buch ist ein Raum, in dem sich Welten öffnen.
von Christian Sälzer (13.10.2015)