Der Comic-Professor
Er hat Comics zu neuem Ansehen verholfen, sie vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften verteidigt und das größte Archiv für diese literarische Gattung aufgebaut: ein Besuch bei Prof. Dr. Bernd Dolle-Weinkauff am Institut für Jugendbuchforschung.
Als Bernd Dolle-Weinkauff Mitte der 1970er-Jahre in Heidelberg und Frankfurt Germanistik und Geschichte studierte, stand es nicht gut um den Ruf von Comics. Sie steckten in der Schmuddelecke und wurden als minderwertige Konkurrenz zu vermeintlich pädagogisch wertvollerer Literatur betrachtet. Vierzig Jahre später ist das anders. Gezeichnete Geschichten sind gefragt wie selten zuvor – und vor allem werden sie so ernst genommen wie noch nie. An dieser Entwicklung ist Dolle-Weinkauff alles andere als unschuldig.
Der Literaturwissenschaftler gilt als führender deutscher Comic-Experte und ist Wächter über das größte öffentlich zugängliche Comic-Archiv des Landes. Dieses hat er am Institut für Jugendbuchforschung der Frankfurter Goethe-Universität aufgebaut, an dem er seit 1983 lehrt, forscht – und eben archiviert. In unzähligen Publikationen, Vorträgen, Lehrveranstaltungen und Ausstellungen hat er dazu beigetragen, dass Comics inzwischen als seriöse literarische Gattung gelten, die beachtet, diskutiert und vor allem gelesen wird. „Das Spannende an den Comics ist das wunderbare Zusammenspiel von Wort und Bild, das in den gedruckten Medien ganz anders daherkommt als im Film“, so Dolle-Weinkauff.
Dabei sind Comics erst relativ spät ins Zentrum seiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. In seiner 1983 abgeschlossenen Promotion beschäftigte er sich noch mit in den 1920er-Jahren entstandenen sozialkritischen Märchen. Im Anschluss an die Promotion ergab sich dann die Gelegenheit, an einem Forschungsprojekt über Comics im Institut für Jugendbuchforschung mitzuwirken. Das dabei entstandene Fachbuch „Comics: Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945“ gilt bis heute als Standardwerk der Comicforschung.
Dennoch sagt Dolle-Weinkauff von sich: „Ich bin kein Comic-Fan.“ Ein Fan ist für ihn jemand, der einem Gegenstand in distanzloser Bewunderung verfallen ist. Das weist der Literaturwissenschaftler von sich. Genau wie bei anderen Literaturgattungen gebe es auch bei Comics gute und schlechte. Für gute Comics kann Dolle-Weinkauff sich jedoch durchaus begeistern. Dass er aber kein kritikloser Anhänger des Comic-Genres ist, sondern ein distanziert analysierender Wissenschaftler, wird auch deutlich, wenn er Begriffe wie Onomatopoesie verwendet, um die Lautmalerei in Comics zu bezeichnen, oder wenn er erklärt, warum Karikaturen derzeit für so viel Wut und Empörung sorgen: „Bilder haben eine höhere Suggestionskraft als Worte und können Leser stärker affizieren.“ Schrift müsse im Kopf erst zu Bildern zusammengesetzt werden. Diese Distanz werde durch die „piktorale Darstellung“ aufgehoben, die einen „unmittelbareren Zugang zum Bewusstsein“ schaffe.
Mit angeblichen Gefahren, die von Büchern und Bildern ausgehen, hat sich Dolle-Weinkauff auch mehrfach als Fachgutachter in Verfahren vor der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auseinandergesetzt. Gegen besorgte Jugendamtsvertreter verteidigte er zum Beispiel „Das kleine Arschloch“ von Walter Moers oder den ersten ins Deutsche übersetzten Band der Manga-Serie „Dragon Ball“ von Akira Toriyama. In diesen Fällen wäre eine Indizierung lächerlich gewesen, meint er. Vor manchen Publikationen müsse man Kinder und Jugendliche jedoch durchaus schützen. Wie ist das mit einem der bekanntesten Comics überhaupt, Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter? „Buchforscher: Struwwelpeter gut fürs Kind“ lautet die Überschrift eines Zeitungsartikels, in dem Dolle-Weinkauff als Experte zitiert wird, der dem 1845 veröffentlichten Bilderbuch bescheinigt, „gar nicht problematisch“ zu sein. So einfach ist es aber nun doch nicht. Der Literaturwissenschaftler betont, dass der Struwwelpeter im historischen Kontext gewürdigt werden müsse. Wie die Kinder im Struwwelpeter über die Stränge schlagen, sei für die damalige Zeit bahnbrechend gewesen. Das könnten Kinder heute jedoch gar nicht mehr nachvollziehen. Abgesehen davon gebe es inzwischen viele Bücher, die für Kinder heute besser geeignet seien.
Kindern den altersgemäßen Zugang zu den dunklen Aspekten des Lebens zu verweigern – davon hält Dolle-Weinkauff nichts. „Wir müssen Kleinkinder nicht mit Splattermovies beharken, aber wir sollten ihre Bedürfnisse ernst nehmen. Es gibt Zeiten, in denen der ‚böse Friederich’ sie ängstigt, und es gibt Zeiten, in denen sie sich mit ihm beschäftigen wollen. Dann sollte man ihnen das nicht verwehren.“ Dass Kinder Märchen brauchen, wie es der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim behauptet hat, bezweifelt Dolle-Weinkauff jedoch. „Wieso sollte ich die Lektüre für meine Kinder auch nach psychotherapeutischen Gesichtspunkten auswählen?“
Der Wissenschaftler Dolle-Weinkauff hat sich nie auf ein bestimmtes Genre beschränkt, er hat Märchen ebenso analysiert wie Comics und Manga oder auch Fantasyliteratur und Computerspiele. Wie behält man hier den Überblick? „Lesen“, antwortet Dolle-Weinkauff schlicht, und: „Neuerscheinungen wahrnehmen, wirkmächtige Tendenzen erkennen.“ Das hat er ganz offensichtlich sein Leben lang getan und dabei auch seinen Blick geschärft für Schnittstellenliteratur an der Grenze verschiedener Genres oder Zielgruppen. „Crosswriting“, Schreiben und Zeichnen zwischen Bilderbuch und Comic zum Beispiel oder gleichzeitig für Kinder und Erwachsene, stelle zwar Verlage und Buchhandlungen vor Herausforderungen, bringe jedoch häufig die innovativsten und interessantesten Werke hervor.
Frankfurt sei ein hervorragendes Umfeld für seine Lese- und Forschungstätigkeit, erklärt Dolle-Weinkauff: „Es gibt zahlreiche Bibliotheken in der Stadt, das Filmmuseum, die Buchmesse, und es ist kein Zufall, dass der Jugendliteraturpreis hier verliehen wird.“ Denn Frankfurt ist eben auch der Standort des 1963 gegründeten Instituts für Jugendbuchforschung, das nicht nur in Deutschland zur Etablierung der Kinder- und Jugendbuchforschung beigetragen hat. Das Interesse der Studierenden sei auch nach der Umstellung von Magister auf Bachelor ungebrochen, erzählt Dolle-Weinkauff. Die Begrenzung des Studiums auf sechs Semester, die übertriebene Regulierung und die Fokussierung auf den Erwerb von „Kreditpunkten“ hätten jedoch ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Studierenden, sich in ein Fachgebiet einzuarbeiten. Dem Interesse der jungen Generation an Comics aber hat dies nichts anhaben können. Dolle-Weinkauffs Lehrveranstaltungen sind so gefragt, dass er sie meist doppelt anbieten muss.
von Ramona Lenz (24.03.2015)