Moskau, Frankfurt, irgendwo
Angelina Polonskaja war eine erfolgreiche Dichterin in Russland. Dann zog sie den Zorn des Kremls auf sich. Momentan lebt sie als Gastautorin des Projekts „Städte der Zuflucht“ in Frankfurt im Exil.
1967 bringt Elvira Polonskaja in Malachowka nahe Moskau ihre Tochter Angelina zur Welt. 1997 entscheidet sich die Stadt Frankfurt, dem internationalen Netzwerke „Städte der Zuflucht“ beizutreten. 2000 versinkt das russische Atom-U-Boot Kursk nach einem Unglück in der Barentssee. 2011 wird in der Oper von Melbourne ein Requiem uraufgeführt.
So weit einige Eckdaten von Geschehnissen, die dazu geführt haben, dass Angelina Polonskaja an diesem Frühlingstag durch ihr Fenster aus dem dritten Stock nahe des Schaumainkais hinunter auf den Main und hinüber zur Skyline schaut. Ein prächtiger Ausblick. „Ja“, bestätigt sie, eher höflich als begeistert. Was soll das auch. Viele Jahre hat die 49-Jährige außerhalb Russlands verbracht, hat mal hier, mal da gelebt. Auch jetzt passt ihre Habe in zwei Koffer. Zum ersten Mal aber ist sie nicht nur im Ausland, sondern im Exil. Seit September 2015 ist die Lyrikerin ein politischer Flüchtling.
Wie es ihr geht? Sie zuckt mit den Schultern und zögert. „Ich schreibe. Ich versuche zu schreiben, meistens nachts.“ Als Gastautorin des Projekts „Städte der Zuflucht“ wird ihr die Wohnung von der Stadt gestellt, die Frankfurter Buchmesse beteiligt sich finanziell, der Verein Litprom als Projektkoordinator kümmert sich. Ein Dach über dem Kopf, ein Auskommen, Ruhe und Sicherheit, all das ist hilfreich. Doch es ersetzt weder Freunde noch ein vertrautes Umfeld. Und es schafft keine Perspektive. Auf dem Schreibtisch liegen drei Bücher, auf denen ihr Name steht. Sie nimmt eines nach dem anderen in die Hand und lächelt. „Schwärzer als Weiß“ ist der bislang einzige auf Deutsch vorliegende Lyrikband von ihr. Das zweite heißt „Grönland“, der Band mit Kurzprosa ist erst vor wenigen Tagen aus der Druckerei gekommen. Das dritte trägt kyrillische Buchstaben. Es ist ihr siebter in Russland erschienener Gedichtband, 2008 war das. Sie nennt es „mein letztes Buch“ und sucht nach einer Formulierung, die weniger endgültig klingt. Übersetzt heißt es „Schnee in mir“. Oft verwendet sie das Bild des Schnees. Warum? „Mit Schnee meine ich nicht das, was vom Himmel fällt. Schnee ist ein innerer Zustand, eine gefrorene Seele.“
Sie beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Als Leistungssportlerin reist sie in jungen Jahren mit dem Moskauer und Kiewer Eiskunstballett um die Welt. In den 1990er-Jahren verbringt sie so einige Jahre in Lateinamerika. 1997 beendet sie den Sport und widmet sich ganz ihrer zweiten Leidenschaft, dem Schreiben. Mit ihrem Mann lebt sie am Rande von Moskau. Es läuft. Ihre Gedichte werden in Zeitschriften und Zeitungen publiziert, sie gewinnt Preise und ist Teil der literarischen Szene. Zwar nimmt sie wahr, dass Russland sich unter Putin allmählich verändert, doch noch interessiert sie das nicht sonderlich. 2008 aber bekommt sie eine E-Mail.
Der australische Komponist David Chisholm hat die Idee, ein Requiem über den Untergang des Atom-U-Bootes Kursk auf die Bühne zu bringen. Durch einen Torpedo-Unfall war der Stolz der russischen Marine acht Jahre zuvor auf dem Meeresboden versunken. Die Welt schrammte knapp an einer Atomkatastrophe vorbei und sah zu, wie alle Rettungsversuche scheiterten. Alle 118 Besatzungsmitglieder starben. Chisholm fragt Polonskaja, ob er einige ihrer Gedichte – sie handeln vom Meer und von Krieg – für das Libretto verwenden kann. Zwei Jahre später wird das Ganze konkret und 2011 wird das Werk in der Oper von Melbourne uraufgeführt. Und wieder hört die Welt von der Kursk. Es ist keine politische Anklage, mehr eine Erinnerung. Doch der Kreml will nicht einmal das, eine Erinnerung an das, was er als Schmach empfindet. Wer nun welche Strippen zieht, ist unklar. Plötzlich aber findet die bis dato erfolgreiche Lyrikerin in Russland niemanden mehr, der ihre Werke veröffentlicht. „Meine Verleger sagten mir, dass sie wegen mir keine Probleme bekommen wollen.“
Stipendien bringen Polonskaja in die USA, wo zwei ihrer Bände auf Englisch erschienen, nach Österreich, Spanien und 2014 schließlich auf Schloss Solitude in Stuttgart. Doch als sie im Frühjahr 2015 nach Hause zurückkehrt, ist nichts mehr, wie es war. Sie erhält unzählige Hassmails und Drohungen, auch bei ihrer Mutter klingelt immer wieder das Telefon. Nationalistischer Geifer. All das wegen der Kursk-Geschichte? Sie wischt die Frage weg. Es gehe schon lange nicht mehr um die Kursk. Russland habe sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert, es sei ein Land im Kriegszustand, im Äußeren wie im Inneren. Pussy Riot, die Annexion der Krim, das Anti-Homosexuellen-Gesetz, der Krieg in der Ukraine, Anfang 2015 dann die Ermordung des Oppositionspolitikers Boris Nemzow – Zeichen düsterer Zeiten. „Nach diesem Attentat haben alle verstanden: Es kann jeden treffen, jederzeit und überall.“
Auch Polonskaja hat sich verändert. Seit einigen Jahren gibt sie Interviews, schreibt Essays und ist in den sozialen Medien aktiv. Gegen ein politisches System, das auf Einschüchterung setzt. Für eine eigene Meinung und das Recht, diese äußern zu können. „Früher war ich nur eine Lyrikerin. Die Verhältnisse haben mich dazu gedrängt, mich zu engagieren und gegen das Regime zu kämpfen. Ich kann mich nicht blind stellen.“ Sogar ihre Ehe zerbricht an der Frage, ob man für oder gegen Putin ist. Sie weiß, dass sie viel riskiert. Eine regierungskritische Meldung bei Facebook weiterzuleiten, kann ausreichen, um ins Gefängnis zu kommen. „Die Situation ist nicht nur schlecht, sie ist gefährlich.“
Als die Situation im Sommer 2015 nach ihrer Rückkehr immer unerträglicher wird, wendet sie sich an das internationale Netzwerk der Städte der Zuflucht (ICORN), dem heute 50 Städte in Europa und Amerika angehören. Sie hat Glück. ICORN bietet ihr eine Gastautorenschaft in Frankfurt an. Frankfurt? Wieder Neuland. Im September steigt sie in den Flieger. Sie ist damit die siebte Schriftstellerin, die hier auf diese Weise Zuflucht findet. Auch das ist Glück. Denn ein Jahr zuvor hatten die Träger das Projekt in Frankfurt auf Eis gelegt. Sie wollten Kosten sparen, sagen Kritiker. Man habe das Projekt evaluieren wollen, sagen die Träger. So oder so: Der Imageschaden war da. 2015 verkünden die Träger, das Projekt fortzusetzen. Polonskaja ist dankbar für die Unterstützung. Doch sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Sie sorgt sich um ihre Mutter im fernen Moskau und fürchtet, nie mehr zu Hause leben und arbeiten zu können. Noch mehr aber fürchtet sie, in das heutige Russland zurückkehren zu müssen. Im Spätsommer könnte es so weit sein, dann ist ihr erstes Jahr in Frankfurt vorüber. Über eine Verlängerung ist noch nicht entschieden worden.
Das Grönland-Buch liegt auf dem Schreibtisch. Ob sie schon einmal auf Grönland war? „Nein, aber vom Flugzeug aus habe ich die Eisberge gesehen.“ Auf Seite 18 des Buches heißt es:
Ich behalte mir ein Recht vor – das Recht auf einen einzigen, nicht von Grönlands eisiger Sonne geschmolzenen Eisberg. Ein zerknülltes Blatt Papier. Von einem nicht zu Ende geschriebenen Brief. Allein dazu muss ich schon überleben. Das Alter erleben und dem Schicksal nicht erlauben, sich zu zerfleischen.
Ich weiß, irgendwo in der Mitte des schwindelerregenden Fluges muss ein Fleckchen Erde sein – zum Verschnaufen. Und dann nehme ich den Brief heraus, um ihn dem Adressaten auszuhändigen. Persönlich.
Ich brauche ihn nicht mehr.
von Christian Sälzer (05.04.2016)